(Ich habe diesen Artikel mit Absicht locker geschrieben. Ich hoffe, dass mein erzählender und manchmal provozierender Stil auch diejenigen anspricht, die mit wissenschaftlichem Jargon nicht so viel anzufangen wissen. Ich versuche, in mehreren Sprachen zu schreiben. Meiner Ansicht nach gehört das zu gelebter Systemik dazu. Wer nur die Gelehrten zu unterhalten versucht, muss sich nicht wundern, wenn das Leben woanders stattfindet.
Diejenigen, die mehr Stringenz und folgerichtige Einfachheit wünschen, möchte ich auf meinen systemzeit-Blog verweisen. Hier drehe ich nicht jedes Wort dreimal um.)
Zunächst einmal möchte ich sagen, dass ich Regeln mag. Wirklich. Ich finde sie eine großartige Erfindung. Man kann sie brechen, an ihnen lernen, mit ihrer Hilfe kreativ werden oder klug. An Regeln ist eine Menge dran. Wer sie grundsätzlich blöd findet, hat meiner Ansicht nach nicht gut genug nachgedacht. Ich mache mir meine Regeln, damit ich nicht an heiße Herdplatten fasse, mich in Raum und Zeit orientiere, den Bären, den ich geheiratet habe, passend behandle und walken oder schwimmen oder laufen gehe, wenn ich es nicht gerade vergesse oder verdränge. Dank ihnen kann ich halbwegs auf der Gitarre herumzumpeln und dazu singen, wenn keiner zuhört. Und was benannter Bär mit ihnen anzustellen vermag, treibt mich immer wieder an meine Grenzen.
Regeln sind toll.
Soviel dazu.
Nun zu meiner Geschichte. Mein ganzes Nachdenken über Übergriffigkeit und freilassendes Denken, Sprechen und Handeln hat wohl irgendwann im Kindergarten begonnen, als mir klar wurde, dass andere Leute komische Sachen machen, die sie selbst und mich in Schwierigkeiten bringen. Doch richtig losgelegt habe ich mit diesem Thema (an dem übrigens auch meine intensive Beschäftigung mit Ideologien dran hängt) am 31. August 1992. Manche Angelegenheiten haben ein konkretes Datum …
Damals saßen Ralf und ich auf einer Bank bei Breckerfeld über einem Tal und planten unser Leben mit prächtigen Zielen, wie das nur sehr junge Leute können. Später hat man so viel darüber gelernt, was nicht geht, dass so manchem die Puste ausgeht. Schade eigentlich, denn es sind die Älteren, deren Erfahrung die nötige Präzision und den nötigen Biss in die Sache bringen kann, aber darüber ein andermal. Wir hatten zu dem Zeitpunkt bereits dreieinhalb Jahre gemeinsamen Schaffens, gemeinsamer Weiterentwicklung, gemeinsamer Wunder und gemeinsamen Ärgers hinter uns und hielten uns für weise genug, in unser Lebenszielbuch zu schreiben: „Der Mensch ist potenziell frei!“ Mit Ausrufezeichen. Niemand ist perfekt.
Wir waren zu dem Schluss gekommen, dass Menschen nicht frei sind, sonst würden sie nicht so fürchterlich viel dummes Zeug anstellen und sähen vermutlich anders aus (vielleicht wären sie eher gasförmige Wirbeltiere?), aber dass sie potenziell frei sind, fanden wir erleichternd und hilfreich genug, um außerdem zu beschließen, dass unser Lebensziel darin bestehen sollte, Mittel und Wege zu finden, wie Einzelne, Gruppen, ja die ganze Welt höhere Freiheitsgrade realisieren könnten. Schöne Hybris der Jugend – solange die Hoffnung nicht ausgeht oder der ganze Krempel in spirituellem Faschismus ausartet, sind das ziemlich coole Gedanken.
Wie auch immer, eben diese Gedanken führten dazu, dass wir beschlossen, mit dem weiterzumachen, was wir bereits angefangen hatten, nämlich all die Mittel, Tools, Modelle und so weiter zu studieren und auszuprobieren, die erst einmal unserer Ansicht nach dazu geeignet waren, unsere eigenen Freiheitsgrade zu erhöhen in der Hoffnung, auf dem Weg Sachen zu entdecken, die allgemein zu empfehlen sind. Wäre mein älteres Ich dazu in der Lage, meinem jüngeren einen Tipp zu geben, würde es vermutlich schreiben: „Liebes, lass die Finger vom Heilsgedanken, der macht nur Ärger!“
So ein Weg der Suche nach höherer Freiheit führt zwangsläufig zu generellen Überlegungen über Freiheit an sich, zu Fragen der Übergriffigkeit von Mensch und Gesellschaft (und beiden voran von einem selbst … der Mensch ist ein Seil, gespannt vom Affen zum Übermenschen und so …) und zu Gedanken darüber, wie freilassend zu denken, zu sprechen und zu handeln überhaupt möglich sein kann und woran das für gewöhnlich scheitert. Außerdem führt so ein Weg auch zwangsläufig dahin, dass einem die eigenen Übergriffigkeiten auffallen können – die ideologische Falle und der faschistoide Impuls lauern überall, und es braucht eine knallharte Ethik der Freiheit, um sich langsam aber sicher durch den eigenen Wahnsinn und die eigenen Idiotien und Gemeinheiten zu arbeiten.
Solch eine Ethik hatten wir uns aufgestellt und hofften, dass sie uns durchs Labyrinth unserer Konditionierung und narzisstischen Kränkungen und Kontrollbedürfnisse führen würde. Ihr oberster Leitsatz lautet: Übertriff, übertriff!, unser Leitsatz des (regulierten und regulierenden) Willens, gefolgt von Handle stets so, dass die Regeln Deines Handelns zum Gesetz für alle werden könnten!, Leitsatz der Liebe, wiederum gefolgt von Handle effektiv!, dem Leitsatz der Wirtschaftlichkeit. Wir waren zu dem Schluss gekommen, dass unregulierte Liebe ziemlich scheußlich werden kann und dass es eine gute Idee ist, das Gehirn erst zu waschen, bevor man den Weichspülgang einschaltet.
Für unsere Beziehung galt (und gilt) unsere Referenz von Liebe: Erwarte die Erwartungen des Anderen und mache den Anderen zum Motiv, über Dich selbst hinauszuwachsen. Es gab folglich keine Berechtigung zu versuchen, in die Konditionierungen der Primärsozialisation zu flüchten, solange wir die drei Leitsätze berücksichtigen. … Dass so eine Flucht in der Praxis dennoch öfter klappt, als einem hinterher lieb ist, bedeutet, kontinuierlich zu lernen. Rückblickend (und auch vorausschauend auf den nächsten Affentanz, den wir veranstalten werden) würde ich gern Freunde einladen, mit Cola und Popcorn bewaffnet einigem Unfug beizuwohnen, den wir veranstaltet haben (und künftig veranstalten werden), damit sie mit letzterem nach uns werfen können.
Dass wir Sprache als Mittel der Erleuchtung an sich erkannten, lag in der Natur der Sache. Wir hatten uns zu dem Zeitpunkt längst darauf geeinigt, dass Wittgensteins Ausspruch „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ stimmt und dass eine Veränderung (bzw. erst Bewusstwerdung, dann Veränderung) unserer Konzeptbildungsprozesse gleich mit verändert, wie wir uns selbst aufstellen und wie wir uns in Welt bewegen, ja Welt und uns selbst konstruieren. Unsere Beschäftigung mit Konstruktivismus und Systemtheorie war dabei behilflich, die Wirklichkeit dieser Äußerung zu be-greifen, und uns wurde früh klar: Wir können systemisches Forschen nicht wie einen Drachen an die Kette legen, um uns damit das Lagerfeuer anzuzünden. Es ist nur wild und frei das Mittel der Wahl für ein entsprechend freies und frei lassendes Leben.
Wer versucht, diesen Drachen zu zähmen, schränkt ihn und sich selbst in seinem eigenen Wirkungskreis ein und neigt dann dazu zu generalisieren und Systemik und andere einzuengen – ein Phänomen, das wir täglich beobachten können. In der therapeutischen oder organisationsberaterischen Reduktion der Systemik werden häufig Re-Spezifikationen oder Verallgemeinerungen gefolgert, die nicht nur nicht generell funktionieren, sondern die außerdem neue systemische Forschung verhindern. Hier dürfen wir mit ruhigen Gewissen laut kritisieren und über selbsterfüllende Prophezeiungen, paternalistisches Gehabe und Politisiererei reden, denn es betrifft uns selbst, und wir haben so etwas auch selbst veranstaltet. Es ist hilfreich, den Fehler begangen zu haben …
Wer sich als systemischer Forscher ernst nehmen will – oder, wenn man eher dazu geneigt ist, sich zu den Systemikern zu zählen, und als solcher überhaupt dazu bereit ist, sich selbst ernst zu nehmen – will die kontinuierliche Weiterentwicklung. So jemand wird den Universalgelehrten anstreben (der sich immer nur werdend begreift). Wer das nicht macht, bleibt eher bei Schnappschussweisheiten hängen, anstatt kontinuierliches Fließen in komplexen re-Entry-FORMen in einer beweglichen und bewegenden Systemik hinzubekommen, die immer und immer wieder bemüht ist, das ganze Bild zu integrieren und zu begreifen, dass und wie man selbst gerade der Meister ist, der das Gras grün macht.
Was die Systemik in ihrer Fähigkeit zu komplexem, umfassendem und den Beobachter, als Wirklichkeit schaffendes Wesen, integrierendem Denken so spannend macht, das ist gerade ihre Verbindung aus Präzision und Komplexität, die sie höher und höher treiben kann, wenn wir es denn verstehen, diesen Drachen zu reiten und uns von ihm führen zu lassen.
Den Schluss, Systemik als Mittel des Denkens unserer Zeit zu betrachten, darf ich ziehen, wenn ich Systemik vom Grund her begreife. Hier muss ich keine Furcht vor der Ideologie haben, denn nur eine grundlegend systemische Haltung, die immer und immer wieder den re-Entry neu vornimmt, die Komplexität und Kontingenz berücksichtigt und die sich gleichzeitig immer wieder zum Lernen von Neuem zwingt, kann gewährleisten, dass der Mensch geht, dass er sich fortbewegt, dass er ein Werdender wird, um es poetisch zu sagen, und nicht nur ein Seiender bleibt. Das gilt vor allem, wenn ich mir den Schuh zuerst selbst anziehe, womit ich bei meinem Kernthema bin, der Übergriffigkeit. Systemik liefert mir die Konzepte, die ich brauche, um mich in Wirklichkeitsemulation entspannt bewegen zu können. Sie liefert die funktionalen Begriffe, um zu realisieren, dass Knopfdrucklösungen bei komplexen Problemen nicht funktionieren, dass mir stets und immer mehr Perspektiven, mehr Sichtweisen, mehr Dimensionen und höhere Differenzierung offen stehen und dass jeder Mensch in seiner eigenen Semiosphäre durch die Welt läuft, dass ich ihn nicht manipulieren kann und dass Versuche, das zu tun, unschöne Konsequenzen für uns alle haben können.
Gestoßen bin ich auf die Konzepte „freilassend Denken“ und „Übergriffigkeit“ aber nicht in der systemischen Forschung, sondern ausgerechnet bei jemandem, der es mit der Anthroposophie hatte. Ich gestehe, ich finde diese Ideologie in ihrer priesterlichen Schwülstigkeit vulgär und zucke jedes Mal mit der Berechtigung der emotionalisierten Abneigung innerlich zusammen, wenn mir VerSteinertEs begegnet. Ich erlaube mir das auch weiterhin, denn ich gehöre zu denen, die sich wirklich durch fast alles durchgearbeitet haben, was vom Meister produziert wurde. Man mag es mir nachsehen (beides, das Durcharbeiten und die Abneigung), ohne unsere Fehler wären wir nicht zu ertragen, und ich kann einfach auf diese Sprache nicht. Dass nun gerade von dort zwei der mir wichtigsten Konzepte kommen, muss ich aushalten.
Ich hatte die ganze Zeit nach Begriffen gesucht, die auf den Punkt bringen, was meiner Ansicht nach im Zentrum systemischen Denkens und Handelns liegt, weil mir nach all dem Unfug, den ich im Laufe der Zeit angestellt hatte, bewusst geworden ist, dass ich nicht hingehen und bestimmen kann, wie andere zu denken, zu sprechen und zu handeln haben. Bevormundendes Erziehen ist mit systemischem Denken nicht zu vereinbaren. Im Gegenteil: Damit treiben wir Kindern ihre angeborenen Fähigkeiten zu Systemik aus, bis sie hinreichend unglücklich über Mathematikaufgaben sitzen. Selbst wenn ich ein ethisches Überwesen wäre, das gar keine Ethik mehr braucht, weil es sowieso alles gleich richtig macht (solch ein Wesen würde vermutlich zum besten Freund den Laplaceschen Dämon haben), müsste ich einsehen, dass meine Regeln nicht für andere gelten dürfen, denn wenn ich für andere entscheide, gelten meine Regeln nicht mehr. Wenn ich unter solchen Bedingungen denn überhaupt noch (so) denken könnte – was die interessante Frage aufwirft, ob Gott denkt …
Ich fing an, die religiösen Ideologien der Welt an mir selbst auszuprobieren, um zu begreifen, worum es dabei geht, ihre Schönheit, aber auch ihre Grenzen und die Probleme zu erforschen, die aus ihnen folgen. Und nachdem ich mich durch meine fünf Weltreligionen gearbeitet und entsprechend auch mit politischen Ideologien herumgespielt hatte, begann ich mit der Modellierung meiner Gedanken zum Thema „Soziale und psychische Funktion und Leistung von Ideologie(n)“. (Eine Artikelserie, in die ein Teil meiner Überlegungen zum Thema eingeflossen ist, finden Sie hier: https://carl-auer-akademie.com/blogs/systemzeit/?s=Im+Gleichschritt+Marsch)
In diesem Zusammenhang konnte ich die Begriffe „Freilassendes Denken“ und „Übergriffigkeit“ gut gebrauchen. Sie kennzeichnen den Rahmen, in dem der faschistoide Impuls wirksam wird, in dem die Ideologie ihre territoriale Macht entfalten kann oder dem Individuum und der Gesellschaft Raum gibt.
Geholfen haben außerdem meine Versuche, eine Weiterentwicklungsgruppe zu gründen (ein hoffnungsloses und seine Idee zerstörendes Unterfangen, wie ich später begriff – mein Misstrauen gegenüber sich an Visionen konstituierenden Gruppen ist nicht mehr wegzukriegen) und meine spätere ehrenamtliche Arbeit.
In schmerzhaften Erfahrungen wurde mir bewusst, dass auf der einen Seite Gruppen nicht ohne Regeln konstruktiv arbeiten können und dass wir auf der anderen in unserer Evolution als Individuen noch nicht so weit fortgeschritten sind, dass wir andere bedingungslos einfach so freilassen können. Es galt einige dunkle Flecken bei mir selbst zu erkennen und loszulassen, den Gedanken an sich an Visionen organisierenden Gruppen weitestgehend aufzugeben und die Konzepte „Freilassend denken“ und „Übergriffigkeit“ bis an ihre Grenzen so auszuarbeiten, dass sich am Ende die Erfahrung in ihnen spiegelt.
Die Sache ist die: Wir leben in einer übergriffigen Gesellschaft, folglich neigen wir selbst zu Übergriffigkeit.
Für mich war das (damals noch als ziemlich matschiger Gedanke) der Grund, den Totalausstieg zu proben. Ich konnte keine Möglichkeit erkennen, innerhalb der Primärsozialisation die Freiheit für mich zu finden, die aus mir jemanden macht, der dieselben Rechte, die er für sich selbst auszubauen gedenkt, auch anderen zugestehen kann. Das war 1988, heute sieht es glücklicherweise nicht mehr ganz so dunkel aus in der Welt, aber noch immer greifen dieselben Mechanismen: Wer versucht, andere zu kontrollieren, ist nicht nur selbst nicht frei, er kann auch nicht umfassend systemisch denken.
(Diejenigen, die jetzt ein „Ja, aber …“ im Kopf haben, möchte ich an meine Liebeserklärung an die Regel oben erinnern. Ich weiß, dass Gruppen und Gesellschaften Regeln brauchen, sonst überlassen wir sie den Deppen, den Bullies, den Feiglingen und den Kriminellen. Wer den Konflikt predigt, ohne Regeln aufzustellen, darf sich schon darauf freuen, dass die Extremisten und die Wahnsinnigen die Kontrolle übernehmen und die ganze Geschichte im Konfliktstau landet. Weichgespülte Konfliktideologien sind in der Regel oberflächlich, konfliktscheu und neigen zu merkwürdig dysfunktionaler Trivialrhetorik.)
Es gilt, die kontrollierenden (im Gegensatz zu den orientierenden) Maßnahmen als Problem unserer Weiterentwicklung als Menschen und Sozialgemeinschaft zu erkennen, doch das wird ohne gründliches Nachdenken über die Folgen kontrollierenden, übergriffigen Denkens, Sprechens und Handelns und ohne praktische Veranschaulichung nicht gehen.
In meiner ehrenamtlichen Tätigkeit habe ich mir viele Gedanken über die Würde desjenigen gemacht, dem geholfen werden soll. Ich bin am Ende zu dem Schluss gekommen, dass er derjenige sein muss, der darüber entscheidet, wie und womit ihm geholfen wird, während mir das Recht zusteht, diese Art von Hilfe zu verweigern, wenn mir das nicht passt. Es steht mir nicht zu, den Alkoholiker zu „retten“ und ihm vorzuschreiben, wie er sein Geld auszugeben hat. Der Mensch muss das Recht auf seine Fehler haben, auf seine Krankheiten und auf seinen Untergang. Entsprechend sind weiterentwicklungspsychologisierende Spirituologien einfach nur totalitär und faschistisch. Da ist nichts „weiter“ dran. Das ist nur ein esoterisiertes Eltern-Ich. Das Leben anderer geht mich nur insoweit etwas an, als dass ich von ihnen lernen kann, und dazu gehört auch, dass ich ihnen dieselben Rechte zugestehen muss, die ich mir selbst wünsche. Bislang ist mir noch niemand begegnet, der es wirklich schick findet, von anderen bevormundet zu werden …
Wenn ich versuche, über das Leben eines anderen zu entscheiden und ihn in seinem Denken, Sprechen und Handeln einzuschränken, entmündige ich ihn nicht nur, ich beraube ihn langfristig seiner Kreativität und Macht, sich als freies Wesen in die Gesellschaft einzubringen. Wer das nicht glaubt, der sollte sich mal anhaltend mit Hartz IV-Empfängern unterhalten und beobachten, wie viele von ihnen denken und handeln. Dann sollte man sich gründlich Gedanken machen, was dort passiert. Eine Haltung des „so lange Du Deine Füße unter meinem Tisch hast, …“ bringt keine erwachsenen Menschen hervor, sondern im besten Fall Pubertierende, die sich gegen diese Bestimmungsversuche zur Wehr setzen. Die vielen guten mittelständischen Bürger, die es völlig richtig finden, wie Leistungsempfänger in Deutschland behandelt werden, könnten es meiner Ansicht nach gut vertragen, mal über das Stockholm-Syndrom nachzudenken.
Man mag tausend scheinbar vernünftige Gründe für seine Übergriffigkeit haben, doch am Ende sollte man sich auch ansehen, was für eine Art Mensch man damit hervorbringt. Der andere mag idiotische Ansprüche stellen, zu faul sein, um sich überhaupt in die Gesellschaft einzubringen (habe ich alles erlebt), doch die Frage muss lauten: Wie kommen solche Menschen eigentlich zustande? Wie kommt einer dazu, von mir zu erwarten, dass ich ihm eine weiße Ledercouch oder einen von diesen riesigen modernen Flatscreen-TVs über Spenden organisiere? Was bringt jemanden so weit, mich stundenlang am Telefon anzuschreien, weil ich nicht bereit dazu bin, seinen persönlichen Wahnsinn in der Welt für ihn umzusetzen und beispielsweise den Jobcenter-Mitarbeiter mit Strafanzeigen wegen Menschenrechtsverletzung zu belangen? Wieviel Kraft braucht ein Mensch, um sich in einem System, das sich erlaubt, ihn im Zweifelsfall unter Druck zu setzen und in seine Lebensentscheidungen einzugreifen, seine Würde und Integrität zu bewahren?
Um zu begreifen, was da passiert, habe ich mir nicht nur die Gefangenen unserer Gesellschaft angesehen, sondern auch diejenigen, die versuchen, sich zu befreien und die anderen das Recht auf Kontrolle über ihr Leben verweigern. Ich durfte immer wieder sehen, dass der Pfad der Freiheit und der Pfad der Kontrolle anderer nicht miteinander vereinbar sind und dass wir nicht zu „Freiheit wozu?“ kommen werden, wenn wir eine Gesellschaft aufbauen, die Menschen höchstens „Freiheit wovon?“ gestattet.
Wer sich als gefangener, unfreier Mensch in Gesellschaft einbringt, der kann nichts Neues hervorbringen. Nur durch den geprobten Aufstand und das Wagnis, für sich selbst das Neue zu schaffen, es sich zu erlauben, anders zu denken, geht individuelle und gesellschaftliche Weiterentwicklung. Ich frage mich allen Ernstes, wie wir glauben können, dass, wenn wir dieses Wagnis für den Einzelnen so anstrengend und schwer machen, dass es nur den Stärksten gelingen kann, wir so eine Gesellschaft hervorbringen können, die langfristig an freiheitlich-rechtsstaatlicher Demokratie festzuhalten und zu arbeiten vermag. Ich lebe so ein Leben, und ich weiß, was es mich kostet. Ich kenne die Anstrengungen, denen Körper, Verstand und Gefühl ausgesetzt sind, nur zu gut. Ich würde so etwas niemals von anderen erwarten. Freiheit ist nie leicht, aber sie könnte für alle leichter werden, wenn wir anfangen, freilassend zu denken.
Diese Erkenntnisse und Fragen motivieren mich dazu, allen paternalistischen Lösungen gegenüber äußerst skeptisch zu bleiben und grundsätzlich und immer zuerst die Frage nach der kognitiven, emotionalen und sozialen Freiheit des Individuums zu stellen. Ich halte eine Politik der Übergriffigkeit, die im Anderen jemanden sieht, dem nur unter Bedingung geholfen wird, für rückständig und für zu kurz gedacht. Dasselbe gilt für eine Politik, die die Verantwortung für das eigene Wohl auf die Kreativität des Individuums zu verlagern versucht, das sie gleichzeitig wirtschaftlich nur im Gedanken der Exklusion freilässt. Das Motto: „Wenn Du frei sein willst, kannst Du von uns keine Unterstützung erwarten“, ist sowas von überholt und dumm …
Es ist meiner Ansicht nach völlig vermurkst, Engagements wie die Tafeln zu motivieren, die anschließend staatlich eingeplant die Freiheiten des Einzelnen noch weiter beschneiden. Wer armen Menschen Kreativität zur Lebensveränderung verordnet, sorgt dafür, dass die Gesellschaft sie beide am Ende abschafft. Das weiß jeder, der wirtschaftlich kreativ wird, um Hartz IV zu entkommen, weil er da erleben kann, wie sich hundert Krähen um einen Brotkrümel prügeln, der am Ende dann von dem jeweiligen Amazon abgegriffen wird. FDP-Liberalismus ging schon im 20. Jahrhundert nicht gut, in Wirklichkeitsemulation sind die abzusehenden Konsequenzen fatal.
Wir brauchen Konzepte größerer Klarheit, und wir brauchen Denker, die keine Angst haben, im ideologiefreien Raum zu schwimmen. Ich bin ganz bei Heinz von Foerster, dessen Abneigung Ismen gegenüber den eigenen Konstruktivismus beinhaltete. Gib mir eine Schublade, und ich zeige dir, wo systemisches Denken verödet.
Auf der einen Seite hilft ein Verständnis unserer Unfreiheit: Wir sind viel unfreier, als wir frei sind, das hat Ralf in uFORM iFORM schön anschaulich gemacht. Aber in dem Rahmen, in dem wir frei denken, sprechen und handeln können, sind wir möglicherweise sogar unendlich frei – das ist die andere Seite.
Mein eigener Freiheitsbegriff ist von Heinz von Foerster inspiriert: FORMe die nächste Möglichkeit.
Begrenzt wird er durch die drei Leitsätze unserer Ethik, die ich oben erwähnt habe.
Begrenzt wird er auch durch den Gedanken der Übergriffigkeit.
Übergriffigkeit in jeder Hinsicht zu vermeiden, ist eine ziemlich unbequeme Sache, weil sie uns über Dinge nachzudenken zwingt, über die wir keineswegs immer gern nachdenken. Beispielsweise freilassend zu schenken …
Ich kenne Geschenke, die kommen für den Beschenkten mit hohen Kosten. Ich habe es gerade selbst erlebt, als ein fremder Mensch mir das (für mich nicht akzeptable) Geschenk machen wollte, Texte von mir und anderen überarbeitet zu haben, obwohl er dazu keine Erlaubnis erhalten hatte. Er hielt das für eine großartige Sache und war ziemlich entsetzt, als ich ihm ein klares „Back off!“ signalisiert habe und ihm auf sein „Aber, ich kann das besser“ mit einem „Nein, kannst Du nicht, aber das spielt sowieso keine Rolle“ antwortete. Er konnte es nicht verstehen, dass er in fremde Hoheitsgebiete eingedrungen war und dass die Berechtigung, die er darin sah, dass seins besser als unseres war, kein Stück zählt. Er meinte es gut oder dachte zumindest, dass er es gut meinte.
Dass eine solche „Hilfsmaßnahme“ den anderen in einen tiefen Konflikt stürzt (den Viele leider gar nicht mehr bemerken), wollte ihm nicht in den Kopf. Doch in mir tobte dieser Konflikt zwischen konditioniertem „Sei bitte lieb, er meint es nur gut“, der Konsequenz anzunehmen, was nicht gut war, um nicht als arrogante Zicke dazustehen (für Frauen ist die Sache noch ein Stück schwieriger) und ihm klipp und klar zu sagen: „Jungchen, Du übertrittst meine Grenze“. Ich hätte freundlicher sein können, aber auch dieser Konflikt hat keinen klaren Ausgang, denn es gibt Menschen, die Freundlichkeit als Schwäche ausdeuten, und es gibt Menschen, denen es wirklich darum geht, im Leben anderer eine bestimmende Funktion auszuüben.
Es ist doch interessant zu sehen, dass in den meisten Fällen, in denen jemand übergriffig wird, er das als zum Besten des anderen ansieht, als Geschenk. Insofern ergibt es Sinn, bei der Frage nach dem Motiv hinter dem Geschenk mit der Frage nach der Übergriffigkeit zu beginnen. Was mich angeht, ich schenke wirklich gern, aber von mir aus kann derjenige mir das Geschenk mit den Worten: „Was soll ich denn mit dem Schrott!“ ins Gesicht werfen, wenn ich so unvorsichtig war, etwas zu schenken, ohne mir ernsthaft Gedanken darüber zu machen, ob derjenige das überhaupt will.
Um wieviel feinsinniger müssen wir erst sein, wenn es um Hilfsbedürftige geht, die auf uns angewiesen sind? Ihre Verletzlichkeit ist meiner Ansicht nach das schwer wiegende Argument, ganz besonders zurückhaltend und umsichtig zu sein. Es geht um Würde. Ein Mensch, der für Hilfeleistung seine Würde aufgeben muss, kann sich schwerlich als wilder, freier, kraftvoller, kreativer Mensch in Gesellschaft einbringen. Die Frage nach dem BGE ist eine Frage danach, was für Menschen wir sein wollen, was für eine Gesellschaft wir aufbauen möchten.
Übergriffigkeit meint Grenzüberschreitung. Dabei spielt die Intention keine Rolle. Jeder, der ungefragt in den Hoheitsraum anderer eindringt, sollte sich darüber klar werden, dass er gerade den anderen zum Unmündigen erklärt. Ob das gut oder schlecht gemeint ist, ist in der Konsequenz bedeutungslos, denn nur Menschen mit Sinn für ihre eigene Integrität und mit dem Willen, im eigenen Hoheitsgebiet auch die Herrschaft zu behalten, sind dazu in der Lage, sich gegen Übergriffigkeit zur Wehr zu setzen. Ich arbeite hier bewusst mit Territorialbegriffen. Ich teile die Ansicht Übergriffiger nicht, dass der Weg der Arbeit an sich (gern auch der Erleuchtungsweg, auch wenn ich den spirituellen Begriff abgeschmackt bis bodenlos fies finde) beinhalten muss, sich voll der Kritik anderer zu „stellen“ und damit zurechtzukommen. Es geht in meinen Augen nie, vereinbarungslos oder gar noch unter Androhung von Strafe von anderen etwas zu verlangen, weshalb ich diese Rechtfertigung der Übergriffigkeit selbst als Übergriffigkeit entlarven möchte. Es ist ein Versuch zu zwingen.
Wir produzieren leider immer noch Menschen, die übergriffig denken, sprechen und handeln, die für andere entscheiden wollen, die kontrollierend und nicht orientierend denken und die nicht dazu in der Lage sind, vor allem zuerst sich selbst zu ändern, um so als Leuchtturm in der Welt zu stehen, dem andere folgen können, wenn sie es denn wollen, und an dem sich andere orientieren können. Frage ich danach, was jemand über diese oder jene politische Situation denkt, bekomme ich in solch überwältigender Anzahl Antworten von Abhängigen und Kontrollierenden, dass ich mich nicht darüber wundere, in was für Schwierigkeiten wir stecken.
Die meisten politisieren. Die meisten sind immer noch dabei, ihre Herrschaftsgebiete auszudehnen, ohne selbst Bürgermeister im eigenen Dorf sein zu können. Ich finde es viel mehr sexy, erst einmal in meinem eigenen Denken die Grenzen auszutesten und über mich selbst hinauszuwachsen, mich selbst zu fordern, was mir kreativ zum Problem einfällt, anstatt hinzugehen und den Wachtmeister über das Denken und Handeln anderer zu spielen.
Indem ich freilassend denke, spreche und handle, räume ich dem Anderen sein Recht über sich selbst und sein Leben ein – so schwer kann die Vernunft solchen Denkens zu erkennen eigentlich nicht sein, denn eigentlich wollen die meisten das für sich selbst. Mehr noch aber, kann ich über solch ein Denken, Sprechen und Handeln meine eigenen Freiheitsgrade erkennen und sehen, wo ich ein abhängiges Dummerchen bin, ein kontrollierendes Monster, wo ich unkreativ werde, anstatt mich für mich selbst zu engagieren und mir den Denk- und Handlungsspielraum zu erweitern.
Ich kann natürlich von anderen nicht verlangen, dass sie diesen Gedanken folgen und beginnen, ihr eigener Mensch zu werden. Das würde meine Intention zerstören, denn ich müsste ihnen auch vorschreiben, wie sie das zu tun haben, und meine eigenen Erfahrungen und Überlegungen sind nicht hinreichend, um wirklich auch für andere zu gelten. Vor allem kann ich nicht entscheiden, ob der andere tatsächlich bereits dazu in der Lage ist, so einen herausfordernden und durchaus auch gefährlichen Weg zu gehen. Deshalb lehne ich den Gedanken ab, dass die Aufgabe des Helfers vor allem darin bestehen sollte, anderen ihre Möglichkeiten aufzuzeigen, beziehungsweise, ich möchte dem diesen Gedanken vorlagern: Die Aufgabe des Helfers/der Gesellschaft sollte vor allem erst einmal darin bestehen, dem Anderen die Möglichkeit zu bieten, seine Freiheitsgrade selbst zu erforschen. Abhängige können das nur, wenn sie bereit dazu sind, im Zweifelsfall ihr Leben dafür aufs Spiel zu setzen. Ich denke nicht, dass wir noch so rückständig sein müssen, eine Gesellschaft zu konstituieren, die das zur Grundbedingung macht …
Ob jedenfalls in meinen Überlegungen etwas Anregendes zu finden ist, kann nicht ich entscheiden, das müssen andere für sich selbst tun – das ist die Konsequenz freilassenden Denkens. Außerdem ist es durchaus denkbar, dass jemand es schick findet, andere zu kontrollieren und selbst als Abhängiger zu denken. Das Recht muss ich ihm lassen, auch wenn ich mir in so einem Fall alle Mühe geben würde, seinen Opfern zu erklären, was da mit ihnen versucht wird.
Für mich selbst gilt: Ich muss die Konsequenzen übergriffigen, grenzüberschreitenden, kontrollierenden Denkens erkennen und dann meine eigenen Konsequenzen daraus ziehen. Da ich eine Welt will, in der die Menschen frei denken, sprechen und handeln können, muss ich folgerichtig über dieses Thema reden und die Möglichkeit zur Diskussion schaffen und das im Rahmen dessen, was mir möglich ist, was wiederum davon abhängt, wie frei ich selbst denken kann. Eine Herausforderung ohne Ende in Sicht.
Konstruktivistisch und systemisch zu denken ist meiner Ansicht nach ein fantastischer Anfang. Doch, wie oben angesprochen, geht systemisch zu denken nicht wirklich, ohne sich in allem anderen zu bilden und das kontinuierlich, sonst neigen wir dazu, den Drachen an die Kette zu legen. Das Problem mit an die Kette gelegten Drachen ist nicht nur, dass sie das langfristig nicht mit sich machen lassen und uns ordentlich Zunder geben können, sobald sie frei sind, sondern auch, dass es die eigene Blindheit ist, die einen am Ende aus der freien, wilden Systemik eine Politisiererei mit ideologischem Ausgang machen lässt.
Das ist eins der Probleme heutiger Systemik, dass sie sich zwar halbwegs in die Relativitätstheorie aufgemacht hat, vor der Quantenphysik aber einigenteils scheut. Auf der einen Seite des Extrems stehen Absolutrelativisten, die ihren Luhmann dafür benutzen, eine Wohlstandssystemik zu predigen, die in Ambivalenz absäuft und die die Leute irre macht, auf der anderen Seite Reduktionisten, die die Systemik in die Zwangsjacke ihres Modells pressen, um von dort aus dann Entscheidungen über die Freiheiten anderer zu fällen. Systemik ist mit den Großen aus dem vergangenen Jahrhundert nicht zuende gedacht, und sie hat interessanterweise gerade dort, wo sie meint „das geht gar nicht“ noch so einige Überraschungen für uns in petto.
Mit anderen Worten: Auch Systemik kann übergriffig werden, der Drache ist ja in Händen von Menschen.
Einer der Wege, da herauszukommen, ist der der Vernunft. Yup: Ausgerechnet dieses tot gesagte Mittel, das sogar über „richtig“ und „falsch“ entscheiden kann, wird zum Befreier des Drachen. Wer hätte das gedacht … Logik, folgerichtiges Denken, konsequente Wissenschaftstheorie und Konzeptschärfe sind nicht tot, sondern sie entfalten überhaupt erst durch das gekonnte Spiel mit ihnen neue Paradoxien und Unbestimmte. Zu versuchen, sie mit plumper Salonrhetorik plattzuwalzen, überhaupt Philosophie mit Rhetorik zu verwechseln, ist tragisch und damit komisch.
Einer meiner Bezugspunkte für freilassendes Denken ist der Gedanke, dass uns Einstein beigebracht hat, dass Bezugspunkte relativ zueinander sind. Das bedeutet aber nicht, dass wir Sir Isaac Newton in seinem Terrain nicht mehr ans Steuer lassen können. Wer Weiterentwicklung so begreift, dass die alten Methoden und Erkenntnisse zwangsläufig mit der Weiterentwicklung überwunden wurden, irrt sowas von …
Was relative Bezugspunkte angeht, stimmen Konstruktivismus und Systemtheorie mit den weltanschaulichen Erkenntnissen aus der Relativitätstheorie überein, und die großen Säulen des vergangenen Jahrhunderts, Maturana, Luhmann, von Foerster und einige andere haben uns eine Menge über Komplexität und Respezifikation gelehrt, jedoch ist die Sache mit der Respezifikation leider nicht immer jedermanns Sache.
Nun kommen wir aber mit „es ist komplex(er)“ oder mit „es ist kontingent“ allein nicht wirklich weiter. Ohne Respezifikation, ohne neue Dimensionen zu konstruieren, die wir dann ausdifferenzieren, können wir nichts weiter Interessantes über dieses unentdeckte Land sagen, auf das wir gerade mit dem Finger „es ist komplex(er)“ zeigen.
Es ist vernünftig, jemandem, der sich in seiner eigenen Rigidität festgefahren hat, zu zeigen, dass die Angelegenheit mehr Aspekte und weit reichendere Folgen hat, als er derzeit sehen möchte. Ich bin auf jeden Fall dafür, Komplexität zu thematisieren. Das geht aber auf die Dauer nur, wenn ich auch dazu bereit bin, in dieser Komplexität neue Landmarken aufzustellen. Und das heißt, ich muss meinen Kopf bemühen und neue Bestimmtheit erlauben. Genau an dieser Stelle wird Systemik zur Innovationsblockade, wenn sie das nicht erlaubt, wenn sie da mit der alteingesessenen Arroganz des Dogmatikers reagiert und denkfaul bereits errungene Territorien verteidigt.
Es ist nachvollziehbar, wenn das jemandem passiert, der glaubt, dass das, was er sich mühsam errungen hat, in Frage gestellt wird. Nicht mehr nachvollziehbar allerdings ist es, wenn er weiß, dass die Aufforderung lautet: „Nein, darüber hinaus!“ und dann trotzdem blockiert. Wissenschaftlich ist das nicht.
Für Respezifikation, fürs Erarbeiten der neuen Dimensionen, dafür benötigen wir vor allem unseren Verstand. Hätte Einstein nur „alles ist relativ“ gesagt, hätten wir kein GPS. Das reicht bestenfalls als Leitsatz für eine ideologische Bewegung, nicht aber für das Erschließen neuer Märkte und die Erfindung neuer Technologien.
Dass Einstein als Physiker aber Gottseidank genauer werden und seinen Verstand benutzen musste, um seinem Traum, wie er beim Nachdenken an seinem eigenen Hinterkopf wieder herausgekommen ist, mehr Fleisch zu geben, das hat uns die Spezielle und die Allgemeine Relativitätstheorie geschenkt und mit ihnen eine neue Sicht auf die Welt und großartige Erfindungen.
Intuitionen sind klasse, aber wäre Einstein nur ein Träumer gewesen, unfähig der (im Vergleich zur Quantenphysik noch ziemlich einfachen) Mathematik, wir könnten folgendes Gedankenexperiment nicht durchführen:
Nehmen wir eine Metallkugel von einem Zentimeter Durchmesser und versuchen, diese Kugel durch ein 0,75 cm großes Loch zu stopfen, wird uns das nicht ohne Gewalt gelingen. Wenn wir aber dieselbe Kugel auf 250.000 Sekundenkilometer beschleunigen, passt sie plötzlich durch das Loch: Bei dem Tempo ist sie im Verhältnis zum sich nicht bewegenden Loch kleiner.
Verrückt, oder? Doch das ist eine der Konsequenzen aus der Relativitätstheorie, dass Masse und Größe eines Objekts in Relation zu einem anderen Objekt geschwindigkeitsabhängig sind. Vielleicht wirken große Denker deshalb auf uns auch körperlich so groß, weil sie ihre Denkgeschwindigkeit reduzieren müssen, wenn sie sich in unser Universum begeben :) Wer das nicht begreift, dem steht es frei, sich als angehender Universalgelehrter tiefer mit Spezieller und Allgemeiner Relativitätstheorie zu beschäftigen.
Ein anderes Beispiel: Nehmen wir ein Fahrzeug, das 2 Meter breit ist und das mit 250.000 Sekundenkilometern durch einen Tunnel fährt und dann darin plötzlich bremst. Der Tunnel ist nur 2,50 m breit, und das Fahrzeug bleibt stecken, weil es plötzlich größer geworden ist. Dumm gelaufen.
Wir kennen solche relativen Verhältnisse aus dem Physikunterricht.
Nur setzen wir dieses Wissen eher nicht um, sondern prügeln lieber auf die Welt mit Beschreibungen ein, von denen wir eigentlich wissen (könnten), dass sie nicht funktionieren. Was das angeht, steckt leider auch die Systemik oft genug immer noch im Newtonschen Universum und streckt gerade mal ein wenig über „Es ist komplex!“ die Fühler in die Relativität aus. Von Quantenphysik brauchen wir da gar nicht zu sprechen, und das ist sehr schade, denn wie Ralf und ich in „Lüchower Interpretation der Systemmechanik“ gezeigt haben, gibt es da für die Systemforschung noch Fantastisches zu entdecken.
Beispiel gefällig?
Wir wissen, dass lebende Systeme, dass autopoietische, komplexe Systeme, nicht punktuell vorhersagbar sind. Das ist einer der großen Beiträge der Systemforschung zur Soziologie, zur Psychologie, zur Biologie, zur Wirtschaft, Politik und so weiter.
Und es ist ein fantastischer Beitrag, würde sie dort nicht stehen bleiben.
Das passiert aber seit einigen Jahrzehnten. Man baut sich die Komplexität aus, richtet es sich in ihr gemütlich ein und merkt nicht, dass es an anderer Stelle weiter geht und dass diese Komplexität Neudimensionierungen und Re-Spezifizierungen eröffnet, die höhere Konkretheit auf eine Weise möglich machen, die tatsächlich heute sogar hingehen kann und sagen: Entschuldigen Sie, meine Dame, mein Herr, da liegen Sie falsch, so sehr Sie auch versucht haben, das Wort loszuwerden.
Meine größte Kritik an einigen heutigen Denkgewohnheiten in der Systemik ist, dass man es sich bequem gemacht hat. Aus ursprünglich hoch komplexen Überlegungen wurden einfache Glaubenssätze, die nun dazu verleiten, in einer Welt herumzuspielen, die sich immer mehr von der Wirklichkeit anderer entfernt und/oder die sich in Trivialaussagen dogmatisiert, die keineswegs überall Gültigkeit haben und die tatsächlich Innovation versperren – und damit fantastische wirtschaftliche und wissenschaftliche Möglichkeiten … von den individuellen und sozialen Freiheitsgraden ganz zu schweigen.
Ich finde nachvollziehbar, dass wirtschaftliche Notwendigkeit dazu motiviert, vor allem dort zu bauen, wo auch das Geld fließt. Verrückt wird es, wo neue Märkte nicht erschlossen werden können, weil das Gewohnheitstier keine Lust dazu hat, die Couch zu verlassen, sondern lieber anderen erklärt, wie die Welt zu laufen hat.
Hier wird die Verbindung zu Freiheit, an Ketten liegenden Drachen und Kugeln, die durch zu kleine Löcher passen, deutlich:
Dogmen und Wissenschaft gehen nicht zusammen, wohl aber Dogmen und Kirche. Wo „Ich brauche das nicht!“ oder ein nur halb verstandenes Theorem von Gödel oder die Polykontexturalität Günthers dafür missbraucht wird, Logik wegzuerklären, um die eigenen Pfründe zu sichern oder sich als Unternehmensberater halbwegs durchzuwurschteln, haben wir ein systemisches Problem. Wenn das mehr als einer macht, fällt es in der Masse nicht weiter auf, dass und wie das Fehlen von tieferem Wissen über die Dinge, auf die man sich bezieht, verhindert, dass neue Forschung überhaupt als neu erkannt werden kann – geschweige denn, dass man sie als relevant einzuschätzen vermag.
Eine solche Systemik wird unweigerlich übergriffig, lässt unweigerlich bestimmte Gedanken nicht zu und versucht leider auch am Ende, im eigenen Interesse Weiterentwicklung von Individuum und Gesellschaft zu verhindern. Sie ist auch nicht zu transdisziplinärem Arbeiten in der Lage. Ich habe das Glück, zu denjenigen zu gehören, die Neues erfinden. So kann ich die Erfahrungen sammeln, die andere zu unbequem finden. Es mag eine Frage des Geschmacks sein. Nach meinem sollte gerade Systemforschung so interessiert wie nur möglich an Neuem sein und die unbequeme Position suchen.
Ich will dazu konkreter werden, auch wenn ich mir damit nicht nur Freunde mache:
In einigen meiner systemzeit-Artikel habe ich darüber gesprochen, dass und wie es sich bei Individuierung um eine evolutionäre Errungenschaft handelt und dass und wie diese Errungenschaft in kontinuierlichem Konflikt mit dem Interesse steht, das eigene Erkennen sozial relevant zu machen – im Zweifelsfall durch faschistoides Handeln.
Individuierung geht nicht ohne Re-Spezifikation, ohne das Bestimmte, ohne die Kontrolle des Unbestimmten, des Chaos. Ein Beispiel: wenn wir singen. Wir Menschen verfügen über die erstaunliche und wunderbare Fähigkeit, aus Chaos Ordnung zu schaffen und zum Beispiel aus der chaotischen Vibration einen einzelnen, klaren Klang zu produzieren. Um das tun zu können, reicht die Veranlagung allein aber nicht, wir müssen auch trainieren. Wenn wir das unterbelichten, der Komplexität den Vorzug vor unserer sagenhaften Fähigkeit, Dinge zu bestimmten, mit Chaos umzugehen, geben, verlieren wir sowieso das Recht, anderen vorzuschlagen, sie sollen ihren Möglichkeitsraum ausdehnen und neue Möglichkeiten schöpfen: Wir tun es ja selbst nicht.
Nicht in Analogien und Wortmodellen zu denken, sondern Unbestimmtheitsorganisation und Chaosmanagement sind die Fähgikeiten, mit denen wir Menschen noch den Künstlichen Intelligenzen überlegen sind. Auch deshalb wäre es ein Fehler, sich auf Komplexität und Kontingenzbewusstsein zu konzentrieren und unsere Fähigkeit zu diesen beiden unterzubelichten.
Jede Entscheidung, die wir fällen, ist bestimmt. Alles, was wir über das Relative, das Unbestimmte, über Paradoxien und Widersprüche, über Unschärfen und so weiter wissen, rührt auch von unserer Fähigkeit zu bestimmen, im Kleinen zu denken und große Zusammenhänge zu erkennen her. Unsere Fähigkeit zu Freiheit ist das Resultat unserer Fähigkeit zum bestimmten Denken. Nur, weil ich die Fähigkeit besitze, aus verschiedenen Möglichkeiten auszuwählen, bin ich überhaupt frei. Wenn ich diese Möglichkeiten nicht re-spezifiziere, sondern einfach nur in einem großen Matschraum stehen lasse, kann ich nicht frei handeln. Nur durch Training, Steigerung meiner Möglichkeiten und Dazulernen ist Freiheit denkbar. Es ist die Begrenzung, die mir den nächsten Schritt zeigt.
Die verschiedenen Möglichkeiten zu erkennen, ist eine Fähigkeit meiner geistigen Kraft, meines Willens, und hier schließt sich der Kreis: Wenn wir hingehen und direkt oder indirekt die Möglichkeiten anderer beschneiden (auch, indem wir Weiterentwicklung be- oder gar verhindern), handeln wir übergriffig.
Freiheit verpflichtet. Diesen Satz habe ich gerade vor einigen Tagen im Kontext meiner Überlegungen zu Abtreibung geschrieben. Freiheit verpflichtet dazu, Freiheitsräume zu vergrößern. Anders kann sie nicht überleben. Das ist meiner Ansicht nach übrigens eines der kräftigsten Argumente für eine weltoffene Gesellschaft.
Freiheit bedeutet nicht, nur zu machen, was einem gerade Spaß macht. Freiheit hat eine reflexive Komponente. Frei werde ich dadurch, dass ich mir weitere Möglichkeiten schaffe, aber nicht weitere Möglichkeiten, die mir die Grundlagen meiner Freiheit nehmen. Freiheit ist die Freiheit des Andersdenkenden.
Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem in Systemik neue Freiheitsgrade und damit auch neue Bestimmungsgrade möglich werden. Durch unsere Arbeit zum Beispiel ist es möglich geworden, Erwartungen über die sich aus bestimmten FORMen heraus ergebenden Systeme zu bilden, diese Systeme als Emulationen laufen zu lassen, um sich dort anzusehen, was dann passiert. Wir können unsere Erwartungshaltung an Kommunikation als FORMen darstellen und dann sehen, wie sich diese FORMen als Kommunikationssystem ausdifferenzieren. Wir können die FORMenentwicklungsmöglichkeiten vergleichbarer Systeme, die nach ähnlichen Strukturen wie Kommunikationssysteme ablaufen, beobachten.
Wir können erwarten, was passiert, wenn wir die FORM verändern, und wir können feststellen, welche Annahmen über Kommunikationssysteme passen und welche nicht. Das geht auf einem viel höher dimensionierten und differenzierten Level als alles, was vorher mit Erfahrung und Wortmodell möglich war. Es ist unentdecktes Land, das jetzt mit Markierungen, mit Bestimmtheiten erkundbar geworden ist.
Wir können die kommunikativen Riesenwellen, die über unseren Planeten schwappen, gründlicher untersuchen und müssen nicht beim plumpen „es ist komplex(er)“ stehen bleiben, das eigentlich nur „mir zu kompliziert“ meint.
Wir können sehen, wo sich Aussagen über Sozialsysteme als selbsterfüllende Prophezeiungen entpuppen, und wir können demonstrieren, wo eine newtonische Systemik nicht nur den Blick auf Wirklichkeitsemulation verstellt, sondern wo sie auch unser Handeln einfriert. Wir können FORMulieren, was wie funktioniert und dabei/darüber ausgrenzen, was nicht funktioniert. Das bedeutet nicht, Unbestimmtheit wieder abzuschaffen. Es bedeutet einfach, dass wir jedes Mal, wenn wir uns einen neuen Freiheitsgrad erarbeitet haben, damit auch neue Bestimmtheitsgrade schaffen, die es uns erlauben, klipp und klar zu werden. Wem das nicht passt, der hört besser gleich auf zu reden.
Wissen schaffen heißt, Unwissen vermehren.
Ich hatte am Anfang gesagt, dass ich Regeln mag. Hier wurde hoffentlich noch deutlicher, warum. Wer nur auf Freiheit setzt, ohne sich selbst zu beschränken (unter anderem darin, andere zu beschränken), wird erleben müssen, wie diese Freiheit zerstört wird. Das ist es, was an einigen Stellen derzeit in der Systemik und in der Welt passiert. Durch die – verständliche – Zuneigung zur Kontingenz, zur Ambivalenz, zur Komplexität, werden die gewaltigen Analyse- und Erwartungspotenziale übersehen, die sich durch Ausdifferenzierung und Emulation der FORMen eines halbwegs vernünftigen Kommunikationsbegriffs ergeben – von der faszinierenden weiterführenden Erforschung doppelter Kontingenz, struktureller Kopplung und ihrer Rhythmisierungen ganz zu schweigen.
Wir brauchen den Willen zum unbedingten Verstand, der sich selbst übertrifft und der sich nicht an der Komplexität wegwirft. Kreativität und Technik sind zwei Dinge, die zusammen gehören. Freiheit geht nicht ohne den Willen zum Selbstübertreffen.
Und es ist der unbeschränkte Wille zum Selbstübertreffen, der andere freilässt, denn nur so kann er selbst aufs Äußerste gefordert werden. Der faschistoide Impuls will die Welt einfach. Er ist der Vierjährige, der versucht, die Dinge unter Kontrolle zu bekommen und der am Ende nur zum als Erwachsener verkleideten dummen Gör wird, das Willkürherrschaft mit Relativität verwechselt.
Sich selbst herauszufordern und sich selbst kontinuierlich auf Übergriffigkeit abzuklopfen, halte ich für eine der wichtigsten Maximen unserer Zeit. Umzuschalten von „Fördern und Fordern“ auf Freilassen, schafft die Basis für eine Gesellschaft von Menschen, die sich freiwillig für andere einbringen und die ihre Freiheitspotenziale auch wirklich auszuloten versuchen.
Es wird vielleicht immer diejenigen geben, die sich bei Chips und Bier nur auf der Lebenscouch auszuruhen versuchen (finde ich manchmal auch ziemlich klasse), das können wir aber erst wissen, wenn wir es ausprobiert haben. Bis dahin dürfen wir eher vermuten, dass sie teilweise depressives Produkt unserer Übergriffigkeit sind und dass Menschen sich entwickeln wollen, lässt man sie frei laufen.
Was mir an diesen Überlegungen vor allem gefällt, das ist, dass ich dafür nicht Politikerin werden muss. Ich muss keine große Bewegung gründen, ich brauche dazu keine Gruppe. Es reicht völlig, wenn ich zuerst bei mir selbst beginne und dann einfach über meine Überlegungen und Experimente berichte. Es reicht, die Diskussion anzuregen, ja es muss sogar reichen, denn andernfalls handle ich gegen meine Überzeugung.
Denjenigen, die an systemischem Denken interessiert sind, möchte ich ans Herz legen, niemals mit der Weiterentwicklung und Weiterbildung aufzuhören. Es wird nicht möglich sein, auch nur halbwegs der Komplexität der Welt gerecht werdende Modelle zu bilden, wenn man sich nur auf sein Fach konzentriert. Die Welt entwickelt sich weiter. So muss das meiner Ansicht nach auch Systemik handhaben.
Freilassendes Denken bedeutet, die eigene Perspektive kontinierlich zu hinterfragen, zu verändern und zu erweitern und immer wieder über unsere eigenen Denkgrenzen hinweg davon Abstand zu nehmen zu versuchen, andere zu regulieren, außer wir haben eine Absprache darüber, dass das in dieser Situation vernünftig ist. Nur, wenn es uns gelingt, mehrdimensional, differenziert und temporeich zu denken, schaffen wir es, jede Situation aus tausend verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und Neues zu integrieren. In dem Augenblick, in dem etwas anderes als eine freiheitliche Ethik unser Denken, Sprechen und Handeln reguliert, verlieren wir den Fokus. Die Gefahr, dass dann ein evolutionär älteres Programm die Kontrolle übernimmt, ist immer da. Und machen wir uns nichts vor: Das passiert ständig. Der Trick ist, sich von der eigenen Unzulänglichkeit nicht unterkriegen zu lassen und trotzdem weiter zu lernen.
… Ein Trick, der leichter geht, wenn ich mir klar mache, dass ich nicht genug weiß, um mein Wissen über andere zu stülpen, in ihr Heiligtum einzudringen und ihnen Vorschriften zu machen, wie sie zu denken, zu sprechen, zu lieben, zu lachen, zu träumen, … zu leben haben.