Viele scheinen zu meinen, dass kritisch denken zu können nur bedeutet, hinterfragen zu können. Auch in der Wissenschaft begegnen uns immer mehr Menschen, die auf Neues gleich mit "Nein!" reagieren, mit Brauchbarkeitsabwehr und Intellektualismus – und mit Rhetorik, die dagegen redet und das als "kritisch" rechtfertigt.
Kritik bedeutet aber nicht, gleich dagegen zu reden, sondern zuerst einmal genau zuzuhören und gründlich zu lesen, um anschließend prüfend beurteilen zu können. Und das wiederum setzt voraus, dem eigenen Verständnis, dem eigenen Be-Greifen zu folgen. Bei Kritik geht es um gutes Urteilen, oder besser: um funktionales Urteilen. Heute denken Viele, zu bewerten sei Zeichen für Unaufgeschlossenheit und der komplexen Welt nicht gerecht. Das ist nicht nur eine Bewertung, sondern es ist auch Quatsch. Wir brauchen die Kunst, Meinung in fundiertes Urteil zu überführen, damit wir uns in der Komplexität von Globalisierung angemessen orientieren können. Ohne fundierte Urteile könnten wir nicht einmal sicher die Straße überqueren.
Kritik heißt zu überprüfen. Seine Kritik zu äußern bedeutet, dass sie auch der Widerlegung standhalten muss. Kritik muss ihren eigenen Kriterien entsprechen. Ist sie schwächer als das Kritisierte, ist sie keine Kritik. Wenn mir jemand einen mathematischen Beweis liefert, ist "gefällt mir nicht" nicht der Gegenbeweis. Wenn jemand sagt "Das geht auch anders", kann ich von demjenigen fordern, dass er auch zeigt, dass und wie das geht. Außerdem ist Kritik nicht nur negativ, sondern auch positiv gemeint. Der integrierende Denker weiß das und nimmt seine Gesprächspartner ernst und für voll. Ein guter Kritiker denkt außerdem darüber nach, ob und wie das Problem, das er sieht, gelöst werden kann. Auch das ist Aufgabe von Kritik. "Da gibt es Schwierigkeiten" reicht nicht.
Jemand ist ein schlechter Staatsanwalt, der nur die Schuld des Angeklagten zu beweisen versucht. Wie der Staatsanwalt dem deutschen Recht verpflichtet ist, sollte sich der Kritiker der Kritik gegenüber verpflichtet fühlen.
Ich kann nur inhaltlich und funktional kritisieren, wenn ich weiß, was ich kritisiere. Solange das, was der andere mitteilen möchte, mir nur vage zugänglich ist, bedeutet dagegen zu reden, dem Anderen die alleinige Last der (Er)Klärung zuzumuten, ja sogar der Rechtfertigung. Dass das eine Zumutung ist, sollte eigentlich jedem bekannt sein – warum das trotzdem so Viele machen, gibt zu denken.
Einige meinen, dagegen zu reden hätte gute (wissenschaftliche) Tradition. Ich halte das nur für schlechte Angewohnheit. Kritik kann nur, wer begreift, und dazu gehört Selbstreflexion. Man sollte die Verteidigung seiner These nicht mit anständiger Auseinandersetzung mit den Gedanken anderer verwechseln.
Nur aus inhaltlichem Begreifen können (Wert)Urteile folgen, die Hand und Fuß haben. Nur dann, wenn wir uns bemühen, das, was uns der Andere liefert, von allen Seiten und vor allem von Innen zu erfassen, kann unsere Kritik sozial wohlgeformt sein. Nur dann zeigen wir uns als um Verständnis bemühter, gerechter Mensch, der die Lasten wohl zu verteilen weiß und der sich anderen gegenüber fair zeigen kann. Wer sich Sorgen macht, es bleibt nicht mehr genug Unbestimmtheit übrig, um kreative neue Gedanken zu entwickeln, hat von Komplexität und Unbestimmtheit keine Ahnung: Wenn etwas von allein kommt, dann ist es das Unbestimmte. Wir werden erst dann neue Fehler machen können, wenn wir gründlich genug mit unseren Gedanken und denen anderer umzugehen verstehen. Wer folgerichtiges Denken ablehnt, weil er meint, Gödel und andere hätten gezeigt, dass das am Ende eh nicht funktioniert, hat schon denen nicht hinreichend zugehört und keine Ahnung, wovon er/sie redet.
Die leidige Angewohnheit, gleich dagegen zu reden und die eigene Meinung zu präsentieren, anstatt Fragen zu stellen, bis wir verstanden haben, wogegen zu reden sich wirklich lohnt, ist ziemlich hässlich. Sie zeigt Menschen, denen viel wichtiger ist, selbst zu reden. Wie soll so Gemeinschaftlichkeit funktionieren, wenn alle nur von anderen erwarten, dass sie sich halbwegs anständig benehmen, diese Forderung aber nicht an sich selbst stellen? Und wie unfair ist das denjenigen gegenüber, die die Höflichkeit besitzen, sich gründlich zu informieren und die Äußerungen anderer solange mit Fragen zu umzingeln, bis sie selbst begriffen haben, worum es geht, anstatt den Anderen gleich widerlegen zu wollen? ...
Es ist nicht nur hässlich, sondern asozial und Energie raubend:
Dagegen zu reden kostet Zeit und Lebenskraft. Der Andere wird ins Hamsterrad der Selbstverteidigung getrieben, während man selbst sich zurücklehnen kann ... ein eitles Unterfangen vor dem Hintergrund einer Welt, die großen Herausforderungen gegenüber steht. Aus eigener Erfahrung: Ich kenne Menschen, die wollen von mir, dass ich ihnen meine Artikel erkläre, ohne dass sie sie gelesen haben. Dasselbe passiert uns mit unserer Arbeit: Wir liefern Lesestoff, aber anstatt sich erst einmal den zu Gemüte zu führen, begibt man sich unvorbereitet ins Gespräch, und wieder einmal stehen wir inkompetenten Menschen gegenüber, die es für eine Zumutung halten, dass wir das feststellen. Solch ein Benehmen erleben nicht nur wir: Es ist überall an der Tagesordnung. Unternehmen kostet das viel Geld, Wissenschaft wird ausgebremst, und in persönlichen Beziehungen entwickelt sich das immer in Streitereien auf der Beziehungsebene – ein Spiel, das auf Kosten von Sachproblemen gespielt wird, als gäbe es kein Morgen, als würden wir nicht sterben und als hätten Planet und wir ewig währende Ressourcen, um sich uns leisten zu können.
Wer an sich nicht (mehr) den Anspruch gründlich zu denken, zu sprechen und in Folge zu handeln stellt, wird zu einem Problem von uns allen und für uns alle. Und wer das nicht mehr kann, weil er/sie sich in eine Gesellschaft hineinkonditionieren muss, die dafür keinen Raum lassen will, der entwickelt im Zweifelsfall psychische und körperliche Krankheiten. Funktionales Denken ist ein einträglicher Wirtschaftsfaktor, dysfunktionales ein kostenintensiver.
Was für anspruchsvolles, (selbst-)transformierendes Lesen und Zuhören gilt, gilt auch für Sprechen und Schreiben. Nur dann, wenn ich mir Mühe gebe, mich wirklich klar zu machen, möglichst viele Aspekte zu berücksichtigen und einen Stil zu lernen, der in möglichst viele Richtungen anschlussfähig ist, kann ich sozial wohlgeformt sprechen und schreiben. Wer hier nicht bereit ist dazuzulernen, der sagt: "Du bist mir egal, ich will, dass sich alle nach mir richten!" ... oder er leistet einfach den denkerischen, sprachlichen und sozialen Offenbarungseid.
Das einfache "Nein!", das plumpe Dagegen-Reden, die unreflektierte Sprache – sie alle sind Merkmale einer überforderten Gesellschaft und einer Gesellschaft, der es (immer noch) nicht gelungen ist, Nächstenliebe vor Selbstverliebtheit und Faulheit zu stellen. Hier können wir erkennen, dass Religion und Spiritualität nicht die Antwort auf die Frage zur Fähigkeit der Menschen liefern, andere so zu lieben, dass sie ihnen das möglich machen, was sie sich umgekehrt von anderen wünschen. Ideologien führen eng, sie sind die Antwort des unzulänglichen Geistes auf Komplexitätsüberschüttung. Das macht sie nicht verkehrt, aber dass Ideologen versuchen sich auszubreiten und andere gleichzuschalten, wissen wir.
Wir haben kein Problem mit zu wenig Spiritualität: Wir haben eines mit zuviel! In dem Augenblick, in dem spirituelles Denken versucht, die Gruppe zu organisieren, sind wir im kirchlichen Bereich, im Bereich von Machtorganisation angekommen. Die einzige Spiritualität, die sich sozial wohlgeformt halten kann, ist die des Anspruchs an sich selbst, übereinstimmend zu denken, zu sprechen und zu handeln und dieses Denken, Sprechen und Handeln in den Dienst anderer zu stellen. Wer ein praktisches Beispiel dafür braucht, wie konsequent rücksichtslos ideologisch organisiertes Denken sein kann, wirft einen Blick auf die Menschen, die den Klimawandel leugnen, während ihre eigenen Kinder die Folgen zu tragen haben. Ihre Blindheit und Eitelkeit macht sie unfähig, ihre Söhne und Töchter fürsorglich zu lieben und sie vor Schaden zu bewahren, wo sie sie vor Schaden bewahren könnten. Spirituelle Übergriffigkeit richtet seelischen Schaden an, sie stellt Herrschaftsansprüche und stellt Verbotsschilder auf – sei es den Betroffenen bewusst oder nicht. Was mich angeht, ich nehme mittlerweile die Beine unter den Arm, sobald jemand die Gruppenmeditation anberaumt oder gruppendynamische Übungen. Ich mag Gleichschaltung nicht. Ich will meinen Mitmenschen als ihn selbst und am liebsten mit einem Verstand so scharf wie eine Sense.
Das Bild, das mir durch den Kopf geht, ist das von Sternen, die als Entitäten verschwinden, wenn sie sich zu nahe kommen. Gleich zu meinen zu wissen, was der andere meint, ist übergriffig, respektlos und sozial schädlich. Ihn mit billiger Rhetorik in die Verteidigung zu zwingen, ist weder nachhaltig, noch freundlich, sondern dumm und gemein.
Komplexitätsüberschüttung sollte als Argument gegen die Aufforderung, sich denkerisch und sprechkompetent weiter zu entwickeln, nicht durchgehen dürfen. Sicher, die meisten sind mittlerweile auf eine Weise eingebunden, die so viel Lebenszeit verschlingt, dass scheinbar kaum noch Raum für persönliche Weiterentwicklung bleibt, aber das sieht nur oberflächlich betrachtet so aus. In den meisten Fällen lässt sich über die Frage, was man bevorzugt, schnell herausfinden, ob das tatsächlich stimmt.
So haben beispielsweise Viele auf Facebook die Zeit dafür, sich herumzustreiten und den nächsten Trigger-Thread anzuklicken, aber keine, einen anspruchsvolleren Artikel zu lesen oder ein sachlich förderliches Video zu sehen, das ihnen ein bisschen mehr abverlangt?
Reflexives, achtsam/wachsam reflektierendes Denken, Sprechen und Handeln, sowie die Kunst, sinnlich wahrnehmbar und operational zu sprechen und zu schreiben, wo notwendig, helfen dabei, sich in Wirklichkeitsemulation entspannter zu bewegen. Sie bilden die Voraussetzungen für systemisches Denken, wie sich immer wieder leicht erkennen lässt, wenn wir jenen Systemtheoretikern zuhören, die das nie gelernt haben: Ihre Sprache läuft auf Stelzen, und sie be-greifen nicht einmal die Bedeutung, den eigenen Re-entry-FORMen und denen anderer zu folgen. Statt dessen wachen auch sie eitel über veraltetes Wissen, stellen sich den Herausforderungen in Wirklichkeitsemulation nicht und werden so mit Teil des Problems.
Hier ein paar Handlungsanweisungen für den Alltag für diejenigen, die sich anderen nicht über Gebühr zumuten wollen:
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Wenn Du liest, lies langsam und mehrfach. Folge den Wörtern. Versuche, sie im Zusammenhang, in ihrem Kontext zu be-greifen und zwar aus allen Richtungen.
Mehr noch: Folge dabei Deinem eigenen Denken. Beobachte Dich, wie Du zuhörst und liest: Bist Du aufmerksam? Hast Du den Satzinhalt begriffen oder reagierst Du nur auf Dein eigenes, bereits vorhandenes Wissen? Achte auf Deine Trigger. Lerne, Deine ideologischen Impulse zu erkennen. Sie dienen der Gleichschaltung. -
Wenn Du etwas nicht verstehst, such die Ursache nicht gleich beim Anderen. Wenn Du verstehst, aber nicht be-greifst, liegt die Problemlösung bei Dir.
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Ist Dein Denken sinnlich wahrnehmbar oder denkst und sprichst Du in Abstraktionen? Welche Substantive kannst Du durch Verben ersetzen? Wo kannst Du flüssiger werden, anfassbarer, konkreter? Kompliziert denken, kann jeder. Einfach zu denken, das ist Kunst. Es hat Gründe, warum gute Wissenschaft einfach ist: Sie ist überprüfbar, und sie ist auf den Grund gegangen. Aus dem Einfachen lassen sich komplexe Modelle aufbauen, nur dann sind sie nicht unnötig kompliziert.
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Reflektiere Dein Denken, Dein Sprechen und Handeln: Bist Du gründlich genug? Kannst Du das wirklich schon entscheiden oder musst Du gründlicher werden, Fragen stellen (auch an Dich selbst)? Gibt es Menschen, die Du kennst, die gründlicher sind? Woran kannst Du es erkennen? Lerne von ihnen. Kannst Du mehrdimensional denken oder weißt Du nicht einmal, was das ist und wie das geht? Kannst Du höher differenzieren? Reagierst Du emotional? Wenn ja, warum – und besser noch: wozu eigentlich?
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Mach Dir bewusst, dass Du für jede Deiner sozialen Handlungen, jedes Geräusch, jedes Schweigen, jede Äußerung Verantwortung übernehmen könntest. Wie wünschst Du Dir Deine Gesprächspartner, wenn Du ein Anliegen hast, das Dir wichtig ist? Nimm Dir diesen Menschen zum Vorbild.
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Lerne, in unterschiedlichen Milieus unterschiedlich zu sprechen und zu denken. Das hilft dabei, Metaperspektiven zu generieren.
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Be-greife, er-greife, fasse von verschiedenen Seiten an. Du kannst keinen Stuhl durch die Gegend tragen, wenn Du versuchst, ihn nur flach von vorn an Dich dranzukleben – dafür bräuchtest Du Superkleber, und das wäre nicht sehr praktisch und vermutlich nicht gerade gut für die Haut. Was also bringt Dich auf den Gedanken, Du könntest so mit den Gedanken anderer umgehen oder Deine eigenen wären transparent genug, wenn Du sie nur oberflächlich lieferst?
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Schweigen und Zuhören sind Gold. Handeln ist Platin: Meide Menschen, die nur reden und sich aus Verantwortung herauszuziehen versuchen. Sie kosten Dich unnötig Zeit, die Du damit verbringen könntest, mehr über Logik zu lernen oder ein gutes Philosophiebuch zu lesen.
Reflexiv, achtsamt/wachsam relfektierend zu denken und sinnlich wahrnehmbar und operational zu sprechen – das konnten wir alle als Kinder. Es ist nicht so schwer, wie es klingt. Kinder können folgerichtig denken, sie können Fragen stellen, sie können mehrdimensional denken und mit verschiedenen Konzepten die wunderbarsten Bauklotztürme bauen. Sie packen den Matsch mit beiden Händen, ja nehmen sogar die Füße dazu. Sie können ihre Welt noch erkunden, und sie gehen nicht davon aus, dass sie alles wissen. Sie verwenden auch nicht "man kann nicht alles wissen" oder "je mehr ich weiß, desto mehr weiß ich, dass ich nichts weiß" als Rechtfertigung nichts mehr dazu lernen zu müssen.
Viel zu viele haben die Herausforderung verlernt und halten sich für fertig. Viel zu viele finden, dass andere das Problem sind und nicht sie selbst.
Ich denke an diesen Satz: "Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen."
Welches Himmelreich? Das gemeinsamen, gemeinschaftlichen Schaffens und Zusammenlebens, das des Respekts vor der Andersartigkeit des Anderen, das, in dem wir effizient sind, rücksichtsvoll und anderen die Rechte gewähren, die wir uns selbst im Leben und von anderen wünschen vielleicht? ...