Ändert Corona langfristig unseren Blick auf die Welt?
Diese spannenden Fragen kamen von Till aus Berlin:
Herzlichen Dank an Till!
Beginn und Folgen der Pandemie wirken global und nicht isoliert. Wir erleben, dass sie uns systemisch betreffen, was bedeutet: Sie wirken in größerem Umfeld und adressieren uns direkt, privat, persönlich und als Sozialgemeinschaft.
Wir sind in eine Emergenz eingetreten, in der wir das erste Mal in der Geschichte der Menschheit Wirklichkeit gemeinsam mit Maschinen emulieren. Das führt nicht nur dazu, dass es oft viel länger braucht, bis uns Wirklichkeit vor Ort eingeholt hat, sondern Intensität und Wirkung der Krise steigen. Es führt auch dazu, dass uns die Emergenz genau die Antworten und Problemlösungen - und noch viel spannender - die Fragen liefern kann, die wir brauchen, um die Herausforderungen gut für uns zu nutzen.
Die Funktion von Krisen besteht darin, Restrukturierung zwecks Anpassung und Optimierung zu initiieren. Sie motivieren uns dazu, dass wir uns den mit ihnen kommenden Veränderungen anpassen, dass wir uns verbessern, uns neu aufstellen, neu herausfordern - dass wir uns in Frage stellen.
Eines der Probleme in Wirklichkeitsemulation besteht darin, dass uns unsere Technologien dazu befähigen, kontinuierlich erdachte oder echte Krisen global zu kommunizieren und in unsere Modelle einzupreisen. Wir können in den Netzen täglich eine neue Sau durchs Dorf treiben, am Ende glauben wir selbst nur noch für einige Stunden daran, dass sie so wichtig ist, wie wir sie gerade aufspielen. Das kann uns krisenmüde machen oder auch so sehr in Sicherheit wiegen (schließlich stehen wir am Morgen nach der Aufregung auf, und alles ist noch beim Alten), dass wir über lange Zeit hinweg, noch dazu in Wohlstand lebend, nicht mehr merken, dass die Krise längst dabei ist, sich bemerkbar zu machen. Doch da wir das "Problem noch nicht haben", wie es die Soziologin Elena-Maria Beenen neulich in einer Diskussion mal so nett gesagt hat, passen wir uns nicht an, optimieren wir uns nicht, bis der große Schlag kommt, der uns mit einem Mal aus unserem Dornröschenschlaf weckt, und jetzt ist Handeln angesagt.
Preisen unsere Emulationen die Krisen ein, kann es passieren, dass sie ihre Funktion entschärfen. Dann heißt es: "Houston, wir haben ein Problem!", denn wir haben zwar lange drüber geredet, ernst genommen haben wir das Ganze aber trotzdem nicht.
Eine wichtige Frage, die wir uns immer wieder stellen können, ist diese hier: In welcher Zeit leben wir, in welcher Zeit leben unsere Technologien und haben wir tatsächlich zeitgemäße Antworten?
Wir können Probleme von heute und morgen schwerlich mit Lösungen von gestern oder vorgestern bearbeiten. Wachsen wir mit ihnen nicht mit, versuchen wir, im Universum nebenan unter Kontrolle zu bekommen (oder so lange wie möglich zu ignorieren), was uns jetzt gerade im Universum hier passiert, beziehungsweise zu passieren droht. Das kann natürlich nur so lange klappen, bis uns der Ernstfall dann tatsächlich erwischt.
Der wunderbare Wohlstand, den wir uns nach dem 2. Weltkrieg zusammen mit freiheitlich-rechtsstaatlicher Demokratie aufgebaut haben, hat uns theoretisch dazu befähigt, mehr Zeit und Energie dafür aufzubringen, persönliche Sinnfragen zu beantworten.
Doch wir sind eine junge Spezies, die nicht ganz so schnell lernt, wie sie Wohlstand und neue Technologien hervorbringt, und so haben wir versäumt, unseren Wohlstand gut genug zu nutzen. Die Freiheiten, die er uns ermöglicht, brauchten überhaupt erst das Mindset, das mehr mit ihnen anzufangen wüsste, als noch mehr Klamotten und Zeug zu kaufen, noch ein größeres Auto zu fahren, noch weiter mit dem Flugzeug in den Urlaub zu fliegen.
Um es hart zu sagen, haben wir als Gemeinschaft zu lange im Folgestil des Wirtschaftswunders gedacht und nicht berücksichtigt, dass der Planet rund ist und die auszubeutende Fläche irgendwann dann auch mal wieder bei einem selbst ankommt.
Fragen zu Persönlichkeitsentwicklung haben wir mehr und länger Therapie, Religion und Spiritualität überlassen, als gut für uns ist, und jetzt haben wir den Salat: Corona wirft uns ins Home Office, die Technologie darin zu arbeiten ist da, aber wir haben Menschen produziert, die von einer gesellschaftlichen Versammlung in die nächste konditioniert wurden, beginnend mit Kindergarten/Kita, Schule, Ausbildung/Studium, Beruf und so weiter. Viele merken jetzt: Ich habe keine Ahnung, wer ich bin, und die Isolation setzt mir auf eine Weise zu, die ich nicht kenne.
Wir haben zu wenig Zeit darauf verwendet, die skandinavische Bildungsantwort zu untersuchen, die Lene Rachel Andersen und Tomas Björkman in ihrem Buch "Das Nordische Geheimnis" so wunderbar auf den Punkt gebracht haben: Bildung ist der Weg, wie das Individuum erwachsen wird und für sich noch größere persönliche Verantwortung gegenüber Familie, Freunden, Mitbürgern, Gesellschaft, Menschheit, unserem Planeten und der globalen Erbschaft unserer Spezies übernimmt, während es sogar noch größere persönliche, moralische und existenzielle Freiheiten genießt.
Wir haben die Frage danach nicht gestellt, wie viel unserer Arbeitslosigkeit tatsächlich mit positivem Vorzeichen versehen und gesamtgesellschaftlich kreativ genutzt werden könnte, würden wir sie freilassen und die Menschen konstruktiv dazu motivieren sich einzubringen, anstatt zu denken wie Eltern aus den Fünfzigern des letzten Jahrhunderts: "Solange Du Deine Füße unter meinem Tisch hast ..."
Nun zeigt uns Corona - und hoffentlich längerfristig auch Klimakrise und Massenmigration -, dass wir anfangen müssen, nach persönlicher Reife zu schauen, nach Miteinander, nach Verantwortungsbewusstsein. Und wir müssen das konstruktiv tun, denn Menschen, die kritisch beäugt damit rechnen müssen, als Nächstes von moralischen Über-Eltern eins aufs Dach zu bekommen, sind erfahrungsgemäß nicht sehr innovationsfreundlich, beziehungsweise veränderungsbereit.
Es gilt meiner Ansicht nach, das erzieherische Universum zu verlassen und zu begreifen, dass der Mensch nunmal keine Insel ist und dass wir das hier nur schaffen, wenn wir Konzeptbewusstheit trainieren, lokal wirken und global denken.
Die Frage danach, ob jemand mit Anzug und Geld noch Vorbildfunktion erfüllt, würde ich vor dem Hintergrund gar nicht so stellen, beziehungsweise fragen: Ja, warum denn nicht? Sich von solchen Unterscheidungen unabhängig zu machen, ermöglicht schlussendlich Allen, dort Vorbildfunktion zu erfüllen, wo sie sich kompetent machen.
Ich habe vor einer Weile bei einer Fridays for Future-Demonstration gehört, wie sich Demonstrierende darüber mokiert haben, dass Menschen in Anzügen daran teilnehmen. Leute: Macht solche Unterschiede nicht, wir sitzen alle im selben Boot.
Ich würde grundsätzlich alle Fragen des Dagegen erst einmal sehr kritisch beäugen. Ob Links gegen Rechts, Sozialist gegen Kapitalist, Reich gegen Arm, Männer gegen Frauen, Alt gegen Neu und umgekehrt - das sind alles Streitereien aus einem überkommenen Paradigma. Es ist schlussendlich immer Mensch gegen Mensch.
Wir werden nicht einfach von heute auf morgen das Wirtschaftssystem und einige mit ihm verbundenen veralteten Lebens- und Glaubenskonzepte umstellen, weil uns die Krisen dazu herausfordern, das zu tun. Erst recht werden wir das nicht tun, indem wir uns auf den antineokapitalistischen Kriegspfad begeben. Das wird Zeit brauchen - und Geduld mit System und miteinander.
Nachhaltige, mehr noch zukunftsfähige und konstruktive künftige Welten werden nur integrierend und konsequent konstruktiv geschaffen.
Betrachten wir Social oder Physical Distancing als Entzug, werden wir es auch mit Entzugssymptomen zu tun bekommen. Betrachten wir es als Chance, innerlich zu reifen und uns gegenseitig zu unterstützen, nutzen wir die uns zur Verfügung stehenden Technologien, steigern wir Resilienz und wachsen zusammen, während wir gleichzeitig lernen, endlich auch mal wieder allein, ja sogar genussvoll einsam sein zu können. Menschen, die nicht allein sein können, funktionieren auch nicht so gut in Teams, wie sie von sich meinen mögen. Wer Andere für innere Stabilisierung braucht, wird die Gemeinschaft auch genau dafür missbrauchen und sie in ihrer Entwicklung stören oder behindern.
Nun wäre es natürlich illusorisch anzunehmen, dass diese Chancen von Allen gleich gesehen und gleich genutzt werden können. Wir dürfen jetzt darüber nachdenken, wie wir diese Chancenungleichheit langfristig in den Griff bekommen, denn uns fliegt in Krisen Bildungsarmut genauso um die Ohren wie finanzielle und soziale.
Hier finde ich momentan gerade interessant, dass wir ausgerechnet auf diejenigen besonders angewiesen sind, die wir am schlechtesten bezahlen: unsere Sozialarbeiter, Krankenschwestern und -Pfleger, unsere Müllmänner und -frauen, unsere Altenpfleger und -pflegerinnen, unsere Lehrer, unsere Kassierer und Kassiererinnen und so weiter.
Was mit uns passiert, während schlimme Dinge geschehen, hängt davon ab, wie wir denken und was und wie wir kommunizieren. Das alte Denken grenzt ab. Es sagt zum Anderen leichter "Nein!" als "Ja!", es benutzt Statusbezeichnungen, und, gefragt, wer du bist, antwortet es mit: "Ich bin CEO bei ..."
Doch wir merken jetzt, dass uns automatisches Dagegen nicht weiter bringt, und wir können auch erkennen, dass wir operationaler, sinnlich wahrnehmbarer kommunizieren müssen: Jede Energie, die wir für einen Streit verschwenden, die wir mit etwas mehr Wissen und Rücksichtsnahme hätten woanders nutzbringender einzusetzen können, wird krisenrelevant.
Dass uns das in Corona-Zeiten auffällt, halte ich für einen großen gesamtgesellschaftlichen Vorteil, den wir krisenfunktional auswerten können.
Viele schauen jetzt auf die ruhigen Führer, die uns sachlich begleiten, die nicht auf alles eine Antwort haben, sondern die sich Zeit nehmen und die auch sagen können, wenn sie etwas nicht wissen oder wo sie falsch lagen. Wir fangen an zu merken, dass und wie sehr wir sie brauchen. Automatisch werden sich diejenigen, die das können, auch besinnen und anfangen, diesen Ton anzuschlagen. Wir müssen das, weil uns alles andere davon ablenkt, das Ziel zu erreichen.
Wer jetzt eher auf Dissens und Konflikt aus ist, wer sein Ego nach vorn stellt, wo Gemeinschaftssinn gefragt ist, kann erleben, dass Einige sich von ihm oder ihr abwenden. Dabei können wir auch überziehen und anfangen, wieder den Oberlehrer mit erhobenem Zeigefinger auszupacken oder das sogar noch steigern und Andersdenkende offen verfolgen. Aber dabei handelt es sich um ganz normale Offenbarungseide vor beängstigenden Unbestimmten, und wir erreichen gar nichts, wenn wir dem gegenüber nun wieder oberlehrerhaft vorgehen.
Es gilt, Verständnis zu entwickeln, "Konsequent konstruktiv!" zu leben und kühlen Kopf zu bewahren.
Wir leben in einer Welt, in der die Meisten von uns es nicht nötig hatten, Welt anders als auf Komplexitätsstufe 0 oder 1 zu formen. Ein Grundorganisationsschema hat gereicht, Wohlstand hat alles andere scheinbar aufgefangen.
Während dessen haben wir Technologien entwickelt, die uns Plattformen bescheren, auf denen wir kontinuierlich mit mehr als einer Dimension zur Beobachtung von Welt konfontriert werden: Komplexitätsstufe 2. Und das überfordert Viele.
Überforderung, die gesellschaftlich nicht verständnisvoll ernst genommen wird, führt in Abgrenzungsdenken, und so haben wir, weil wir den solidarischen Gedanken scheinbar nicht so nötig hatten, wertvolle Zeit damit vertan, uns mit Leuten zu streiten, die vor lauter Angst wieder Mauern hochziehen wollten, anstatt uns zu überlegen, ob wir das Problem nicht tatsächlich lieber lösen möchten und nicht noch durch eigenes Dazutun verstärken.
Wir erwerben ernsthafte Chancen dazu, größeres Selbstbewusstsein und Gefühl für innere Werte und Kompetenzen zu entwickeln, die über Geld und Macht hinausgehen, wenn wir die Krisen in ihren Funktionen vollumfänglich begreifen und die Herausforderung dazu, uns zu reorganisieren, zu restrukturieren und neu anzupassen, zu verändern und zu optimieren, nicht nur ernst nehmen, sondern auch als Möglichkeit fassen, Miteinander neu zu denken.
Nach allem, was ich über Corona und auch über die Klimakrise verstanden habe, wird das hier nicht leicht werden. Wir werden liebe Menschen verlieren, wir werden uns ändern müssen, wir werden mit wirtschaftlichen Verlusten umzugehen haben, die Viele von uns sehr hart treffen. Je eher wir begreifen, wie dringend wir einander brauchen, und je kraftvoller wir diese Erkenntnis in unserem eigenen Umfeld umsetzen, desto besser werden wir die Krisen nutzen und desto gestärkter werden wir aus ihnen hervorgehen.
Es wird schlussendlich alles davon abhängen, wie sehr wir als Individuum und als Sozialgemeinschaft dazu bereit sind, furchtloser in den Spiegel zu schauen, liebevoller miteinander und auch mit uns selbst umzugehen und die Zeit zu nutzen, jene Bildung zu fördern, die uns zu Erwachsenen macht, die Güte wieder können, Rücksichtnahme, geistige Klarheit, die allein sein können und die aufrichtiges, aber von Herzen distanziertes Miteinander können, das den Anderen in seiner Sphäre strahlen lässt.
Je länger wir das durchhalten, desto besser meistern wir die Krisen. Mehr noch: Wir werden lernen, in ihnen individuelle, wissenschaftliche, soziale und wirtschaftliche Vorteile zu schaffen.
Doch, wenn die Krisen dann bewältigt sind, müssen wir anfangen zu begreifen, dass die alten Muster individuell, gesellschaftlich und global tödlich sind. Wir können selbstbewusste, konstruktive Erwachsene, die ihren Platz kennen und die ruhige Selbstkompetenz können, nicht in veraltete Strukturen konditionieren. Wir werden erkennen müssen, dass der freie Mensch die Welt anders sieht und will.
Wir werden soziale Arbeit neu bewerten und Systemrelevanz neu definieren.
Wir haben alles, was wir dafür brauchen. Wenn wir jetzt mit uns selbst und mit allen und allem anderen geduldig bleiben, können wir auch harte wirtschaftliche Verluste gemeinschaftlich ausgleichen und passendere Werte implementieren.
Es liegt an uns.