Rhetorik- und Sprachbewusstsein spielen eine zentrale Rolle dabei, wie wir Krisen individuell und als Sozialgemeinschaft bewältigen. Da beide leider bislang noch nicht in den Schulen gelehrt werden, sind Viele von uns ihrer eigenen und der Rhetorik Anderer hilflos ausgeliefert - mit dem Ergebnis, dass wir uns in den kommunikativen Riesenwellen, die über die Social Media rollen, in Polarisierungen gegenseitig aufreiben, uns über- und unterspülen und wertvolle Energie verlieren, die wir dringend woanders benötigen.
Je bewusster wir mit Sprache umgehen können, je tiefer wir uns unserer eigenen Rhetorik und unseres Begriffsgestaltens bewusst werden, desto besser können wir miteinander Krisen bewältigen. Ein Mensch, der seine Konzepte von innen heraus aufbauen kann und der weiß, wie er seine Begriff so zueinander in Beziehung setzt, dass sie folgerichtig und systemisch zusammen wirken, hat seinen Platz in sich selbst gefunden und somit Raum für Andere. Er kann leichter zuhören und ist weniger leicht zu triggern.
In dieser Podcast-Serie möchte ich einen Beitrag leisten, dass rhetorisch problematisch aufgebaute Argumente leichter durchschaut, dass Ängste entspannter abgebaut und Zukunftsfragen vernünftiger durchdacht werden können.
Indem wir lernen, unsere Anliegen untereinander ernst zu nehmen, bewusst auf Kriegssprachen aller Art zu verzichten, schaffen wir wärmere Atmosphären, in denen wir leichter aufeinander zugehen und miteinander reden können.
Dabei ist mir wichtig, Ängste ernst zu nehmen und hinter die Rhetorik zu schauen, anstatt einfach blind auf sie zu reagieren.
COVID_19 und die Klimakrise ändern die Bedingungen unseres Zusammenlebens auf so fundamentale Weise, dass wir an die Grenzen unserer Konditionierung stoßen. Gerade wir in den Wohlstandsländern sind geistig und sozial eher schlecht darauf vorbereitet, damit umzugehen. Unsere Rhetorik folgt dem Wohlstand: Wir haben uns Streitereien und sprachliche Nachlässigkeiten geleistet, da wir es konnten. Das geht nun nicht mehr, und wir merken das spätestens dann, wenn Ausgangssperren verhängt werden müssen, weil unser Bewusstsein mit der Krise nicht umzugehen weiß: Viele verstehen sie nicht. Sie haben noch keinen Symbolsatz, um sie abzubilden. Die Sprache dazu ist für sie bedeutungsleer.
In dieser Artikelserie, beziehungsweise in diesem Podcast, beantworte ich gern auch Fragen meiner Leser und Zuhörer.
Beginne ich mit einer ersten Frage von Henrike K. zu meinem Artikel
Drosten oder Wodarg? Rhetoric matters:
Und wie reagieren wir denn dann bei der nächsten Influenza Welle, die
trotz Impfung, immer noch 3000 Menschen pro Jahr in Deutschland
dahinrafft? Gehen dann auch alle Menschen in Deutschland solidarisch in
Quarantäne, Kindergärten und Schulen schließen, abgesagte Hochzeiten
- oder sind 3000 Influenzatote dann etwa "gute" Tote, deren Schutz nicht
genauso wichtig ist? Trifft die Influenza dann angeblich die Richtigen
oder die Unvermeidbaren, Corona aber die Falschen? Sind Überreaktionen nur manhcmal das Maß der Dinge? Wann genau?
Das ist eine gute Frage, finde ich. Wie gehen wir als Sozialgemeinschaft damit um, wenn Menschen sterben, deren Tod wir hätten verhindern können?
Und ich habe keine generell funktionierende Antwort darauf. Ich gehe grundsätzlich davon aus, dass die Meisten von uns nicht wollen würden, dass Menschen sterben, die nicht hätten sterben müssen. Und doch nehmen wir die vielen Unfalltoten jährlich zum Beispiel für unsere räumliche Freiheit und die Vorteile in Kauf, die das Autofahren mit sich bringt.
Gleichzeitig zeigen uns die großen Krisen von heute, und COVID_19 derzeit allen voran, dass jedes Leben wertvoll ist. Nicht nur unser eigenes ist in Gefahr, sondern auch das unserer Lieben: unserer Mütter und Väter, unserer Großeltern, unserer Lebensgefährten, Partner, Freunde und Kollegen.
Krisen fordern uns heraus. Sie fordern unseren Sinn für Solidarität. Sie fordern, unsere Liebe und Zuneigung zueinander zu stärken und zu zeigen. Sie fordern uns dazu auf, weniger egozentrisch zu denken, denn schlussendlich trifft uns unsere Egozentrik: Sie kostet uns. Indem wir uns der solidarischen Entscheidung verweigern, erhöhen wir das Risiko, selbst an der Krankheit zu erkranken und unsere Lieben an sie zu verlieren.
So betrachtet, werden Menschen, die die Angelegenheit mit Herz und Zuneigung, aber auch mit Sorge um das eigene und das Leben ihrer Angehörigen betrachten, eher die Entscheidung fällen, auf wirtschaftliche und soziale Vorteile zu verzichten und Social Distancing zu praktizieren, weil es vernünftig ist.
Nun spielt COVID_19 schon aus Behandlungsgründen in einer anderen Liga als Influenza - nichtsdestotrotz finde ich die Frage, ob wir die beispielsweise 29.000 Influenza zugerechneten Todesfälle in Deutschland 2012/2013 hätten verhindern können (Quelle: Wikipedia), berechtigt.
Wir können jetzt - durchaus auch mit rhetorischem Nachdruck - fragen, warum wir auf diese Todesfälle nicht reagiert haben, auf SARS_CoV_2 allerdings mit so drastischen Maßnahmen antworten.
Und wieder wäre die Frage berechtigt, aber jetzt kommt ein wichtiger Punkt, der in Krisenzeiten eine Rolle spielt:
Ist dies der Moment, an dem diese Frage zu stellen, angemessen ist?
Ich möchte sie mit "Ja!" und mit "Nein!" beantworten: Ja, ich finde sie angemessen, weil wir aus der Krise lernen müssen und weil 29.000 Tote eine schreckliche Zahl ist, denke ich an die Familien und Freundschaften dahinter und an so viel wunderbares Leben, das das Influenza-Virus hinweggerafft hat. So etwas sollten wir künftig mehr zu verhindern versuchen.
Doch ich muss auch "Nein!" sagen, wenn diese Frage in die Richtung zielt, dass ich mich möglicherweise mit ideologischen oder verschwörungstheoretischen Ansätzen beschäftigen soll, die beispielsweise von mir wollen, dass ich darüber nachdenke, dass die Toten und die heutige Krise politisch und/oder wirtschaftlich gewollt waren, beziehungsweise sind.
Das keineswegs unwichtige Gedankenspiel, dass es krisenopportunistische Kräfte gibt - dass also einige Wirtschaftsunternehmen und auch politische Kräfte von der Krise profitieren, Märkte übernommen und Verbote durchgesetzt werden können, die anders nicht so leicht hätten übernommen und durchgesetzt werden können - spielt für die augenblickliche Situation eine untergeordnete Rolle.
Jetzt im Moment gilt es, die Menschenleben zu retten, die wir retten können.
Doch, wir dürfen diese Fragen im Hinterkopf behalten für den Tag, an dem die Welt aufatmen kann, weil wir die Corona-Krise bewältigt haben und nun im Nachhinein überprüfen sollten, was wir hätten besser machen können, was wir für die Zukunft daraus lernen, und wo wir Krisenopportunismus nicht bemerkt und damit durchgewinkt haben.
Worauf wir aufmerksam sein sollten, ist Rhetorik. Gelingt es uns, rational zu bleiben, liebevoll aufeinander zu schauen und unsere Argumente besonnen und mit Ruhe zu durchdenken, haben kleine und große Krisenopportunisten geringere Chancen, mit ihren egoistischen Zielen durchzukommen.
Die gute Nachricht: Wir begegnen den Krisen von heute nicht unbewaffnet. Globalisierung, Algorithmisierung, Digitalisierung und Vernetzung haben uns in eine Emergenz geschleudert, die ich Wirklichkeitsemulation nenne. Wir spielen auf ganz neuem Niveau. Mit dieser Emergenz kommen Tools, Plattformen, transdisziplinäre wissenschaftliche Bestrebungen, soziale Netzwerke, völlig neue Formen beruflicher Chancen und Arbeitsmöglichkeiten und so weiter, dass wir uns mit weitaus weniger wirtschaftlichen Nachteilen den Krisen stellen und sie gemeinschaftlich bewältigen können. Unser verhältnismäßiger Wohlstand verschafft uns die Zeit, danach zu fragen, wie wir jetzt reifen können.
Gemeinschaftlichkeit beginnt mit der Art und Weise, wie wir kommunizieren und übereinander nachdenken. Nutzen wir die Technologien, die wir haben, um kommunikativ dazuzulernen, können wir unser menschliches Potenzial ausloten und ganz besonders denjenigen unter uns unter die Arme greifen, die sich in prekären Lebenslagen sonst allein gelassen fühlen müssten oder die derzeit bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit dafür sorgen, dass das System nicht zusammen bricht.
Zeigen wir Freundlichkeit, Herz und Einsatzbereitschaft. Fangen wir an, unsere Sprache zu reflektieren.
Es liegt an uns, ob wir der Trauer und dem Entsetzen noch mehr hinzufügen, Dunkles noch dunkler machen, oder ob wir einander Leuchttürme werden. Ganz besonders gefordert sind nun diejenigen, die noch Reserven haben. An sie sollten wir unsere Fragen und Bitten richten, dass sie sich für die Gemeinschaft stark machen.
Von unserer Seite tun wir unser Möglichstes, damit die Plattform Formwelt Online bald Allen zur Verfügung steht, damit sich jeder selbst in systemische Konzeptklarheit hinein emanzipieren kann und damit wir uns alle miteinander besser verständigen.
Vielen Dank!