Klare Sicht, freie Fahrt

Kontingenzbewusstsein und Bewusstsein für Komplexität spielen eine wichtige Rolle beim kreativen Gestalten unserer Welt. Sie fördern unsere Fähigkeit, das Andersartige nicht nur in Ruhe zu lassen, sondern auch kontinuierlich zu erwägen und, wo passend, für uns zu übernehmen.
Kontingenzbewusstsein und Bewusstsein für Komplexität reichen aber allein nicht aus. Sie können ihre ganze Kraft erst (kontinuierlich) entfalten, wenn ihnen Eindeutigkeit, Präzision, Konkretheit, der Wille zu folgerichtigem Denken und Klären der Angelegenheiten beigestellt werden. Ohne sie laufen wir Gefahr, in Relativismus zu ertrinken.
Wir werden weich in der Birne, wenn wir die Angelegenheiten nicht klären. "Alles ist relativ" gilt nicht mehr im Konkreten - dort führt es in Treibsandargumentation, in double-bind-Strukturen und in Phrasendrescherei.
Die Postmoderne hat uns den Relativismus als Gewinn einer Freiheit vom Normativen gebracht, den wir dringend gebraucht haben.
Doch das Normative kommt mit einiger Berechtigung. Zu normieren ist eine wichtige Errungenschaft. Ohne normativ zu denken, können wir keine Computer bauen und programmieren, keine industriellen Prozesse optimieren. In Systemen ist Normierung ein Mittel der Selbstanpassung und natürlich auch wiederum die Auflösung von Normen. Normative haben eine gesellschaftliche Funktion, aber wenn sie petrifizieren, dann können sie zu Blockaden werden.
Ohne Regeln gibt es keine klare Erkenntnis, kein geklärtes Handeln und keine gerichtete und gesunde Entwicklung.
Ohne Eindeutigkeit in unserem Universum würde der Stuhl ständig seine Form verändern, Bilder blieben nicht an der Wand hängen, wir wären nicht die, die wir sind. Kinder müssen Objektpermanenz lernen und sie müssen sie auch wieder auflösen können. Aber Objektpermanenz lernen zu können, ist eine evolutionäre Errungenschaft, die Lebewesen resilienter in einer wechselnden Gesellschaft macht. Wenn das Bedürfnis nach Objektpermanenz umschlägt in ontologische Mythen, dann gefährdet das natürlich die Anpassungsfähigkeit und Überlebensfähigkeit des Individuums und der Art.
Im kontinuierlichen Wechsel, in kontinuierlichem Aufeinander-Beziehen der FORMen liegt die Beweglichkeit, wir müssen die Eindeutigkeit, die Präzision und die Konkretheit nicht fürchten. Das Unbestimmte hat die Angewohnheit, sich immer wieder aus dem Bestimmten heraus zu entwickeln. Wir müssen uns darum nicht großartig kümmern, es macht das ganz allein, ja die gute Nachricht ist sogar: Je präziser wir zu denken lernen, je mehr Konkretheit wir in das komplexe Modell hinein bringen können, desto mehr Unbestimmtes bringen wir so hervor. Unklare FORMen in den Kalkül zu überführen bedeutet, sie kommunizierbar und anschlussfähig zu machen. Unterlassen wir diesen Schritt, bleibt unsere Modellkonstruktion auf dem Niveau von naiver Malerei. Je tragfähiger das Modell, das ich verwende, desto mehr unklare oder noch unklare FORMen kann das Modell auch verkraften.
Es reicht vollkommen aus, locker zu bleiben und zu wissen, zu akzeptieren und zu respektieren, dass wir mit Kontingenzbewusstsein und Bewusstsein für Komplexität viel enspannter durchs Leben kommen und dass, mehr noch, je präziser, konkreter und eindeutiger wir in unserem Denken sind, unsere Chancen steigen, dass wir höhere Komplexitäten entdecken, erkennen und erschaffen können. Je höher wir dimensionieren, desto komplexer wird unser Beobachtungsfeld. Je tiefer wir differenzieren und auflösen und strukturieren, desto mehr können wir darin erkennen.
Dass das keine bloße Behauptung ist, lässt sich jeden Tag erfahren. Nicht von ungefähr haben Genies, die emotional hinreichend geklärt sind, einen tiefen Sinn für Ordnung. Nicht von ungefähr kommt ihre Liebe zur Musik und zur Mathematik.
Dichotomien wie Ordnung und Chaos, Ambivalenz und Eindeutigkeit, Komplexität und Einfachheit sollten wir als Ganzes betrachten und aufpassen, dass wir keiner Seite anhaltend den Vorzug geben.
Wer sich in der Eindeutigkeit verliert, dessen Kreativität erstarrt. Dasselbe gilt für seine Intelligenz, seine Beziehungen, sein Leben. Zu starkes Denken in Begrenzungen führt zu unnötigen Konflikten. Doch wer der Ambivalenz (noch dazu als Wischiwaschi-Vorstellung ohne ihre kreativen, ihre gestalterischen Aspekte) den Vorzug gibt, der neigt dazu, alles breitzuklopfen, nichts mehr gelten zu lassen, und wo nichts mehr Gültigkeit hat, regiert die Willkür. Auch das führt zu Konflikten, die niemand wirklich braucht.
Beide Übertreibungen führen in Wahnsysteme. Beide Übertreibungen stecken labile Menschen an. Sie haben beide die Form von selbsterfüllenden Prophezeiungen.
Individuelle und soziale Entwicklung läuft in ausgeglichenen Strukturen. Das Unbestimmte hat genauso seine Berechtigung wie das Bestimmte. Indem wir kontingenzbewusst Komplexität begrüßen, steigt unsere Kreativität und unsere Fähigkeit, entspannter mit den Herausforderungen des Lebens umzugehen. Indem wir unseren Geist mit der Sense schärfen, schaffen wir die kognitiven Muskeln, die wir benötigen, um noch höhere Komplexitäten zu bewältigen.
Und was für uns gilt, gilt ganz folgerichtig auch für die Systemik. Verläuft sie sich in Ambivalenz, wird sie zur Flachlandesoterik. Erstarrt sie in zweiwertiger Logik, kann sie die Komplexitäten nicht mehr reflektieren. Erst wenn sie die Kunstformen präzises Denken und komplexes Denken, differenzierendes und dimensionierendes Denken integriert, schafft sie es, nicht in Systemverwaltung, Systemmissionierung, Systemarchäologie und Systempathologie zu erstarren oder zu erschlaffen.