Ich bin des Öfteren gefragt worden, woher es kommt, dass ich auf der einen Seite stark für Konfliktfähigkeit, Störung und Irritation argumentiere, auf der anderen Seite aber im Zwischenmenschlichen auf Humor, Freundlichkeit, Kooperationsbereitschaft von meiner Seite setze.
Kontext ist eine konsequent freilassende Ethik, der folgende Überlegungen zugrunde liegen:
1. Komplexe autopoietische Systeme bringen von sich aus immer Störungen hervor:
Störungen, Konflikten, Unruhe, Unbestimmtheit, Ambivalenz können wir nicht entkommen, im Gegenteil: Systeme, die versuchen sie auszuschalten, münden im Zweifelsfall im alles zerstörenden Konflikt.
Indem wir Konfliktfähigkeit trainieren und gleichzeitig lernen, dass auch das nur bedingt geht und ein gutes Boot nun einmal schaukelt, bringen wir einige Entspannung ins System, das so lernen kann, auch damit zu leben, dass es mal ordentlich ruckelt.
2. An Freiheitswerten ausgerichtete Sozialgemeinschaften müssen lernen mit Paradoxien zu leben:
Wenn wir fordern, dass sich unsere Mitbürger, Mitarbeiter, Teammitglieder, Freunde, Diskussionspartner ... vollumfänglich bewusst allen Lebensproblemen stellen und "erwachsene", "reife" Entscheidungen fällen, haben wir ein Problem: Wie gehen wir dann mit all jenen um, die das nicht können, möchten oder gar wollen? Schließen wir diese dann von (gewissen) Entscheidungen aus?
Solche Überlegungen führen direkt von freiheitlichen, demokratischen Grundgedanken weg hin zu totalitären Beziehungen und Regimes.
3. Wir brauchen Andere frei:
Was uns Menschen angeht, setzt Evolution auf unsere Vielfältigkeit. Ohne die Impulse, Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, aber auch Konflikte und Probleme des Anderen stünden wir nicht nur allein da, sondern wir könnten auch nur sehr viel weniger erreichen.
Je freier, selbstbewusster und selbstermächtigender, beziehungsweise emanzipierter in ihrer Semiosphäre die Individuen einer Gesellschaft/Sozialgemeinschaft sein können und dürfen (was oft dasselbe ist), desto größer ihre (Multi)Resilienz und ihre Fähigkeit mit Metakrisen umzugehen. Nicht nur was gesellschaftliche, sondern auch was Persönlichkeitsentwicklung angeht, sind wir auf den/die Andere/n angewiesen.
Damit Menschen ihre Potenziale entfalten, benötigen sie freilassende soziale Architekturen.
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Wir sprechen im Kontext von Freiheitsethiken immer gleich über Menschenbilder:
Gehe ich davon aus, dass meine Mitmenschen sowieso zu "dumm", zu "emotional", zu "unverantwortlich" ... sind, lebe ich bereits in einer Welt mit unterschiedlichen Klassen von Menschen.
Der Vorteil dieser Vorgehensweise: Ich muss mich nicht so sehr mit Enttäuschungen herumschlagen.
Die Nachteile sind allerdings gewaltig:
a) Ich vertue Chancen, dass Andere mich überraschen können.
b) Ich arbeite zwangsläufig an Sozialarchitekturen, die der "geistigen Behinderung" Anderer vorgreifen und entmündige sie damit.
c) Ich reduziere Innovationsbereitschaft und -mut.
d) Ich mache zunehmend Bildungsangebote wie "Man muss die Menschen da abholen, wo sie stehen" und kann dann folglich so Einiges nicht mehr anbieten zu lernen.
e) Ich verlerne, den Anderen als Motiv zur Selbstherausforderung zu betrachten.
f) Wir geben so den freiheitlich-demokratischen Grundgedanken auf.
g) Wir geben damit auch auf, den kommenden Metakrisen adäquat begegnen zu können.
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Es gibt noch eine Menge mehr, aber das sollte für den Anfang reichen.
Der umgekehrte Weg ist anstrengender, aber vielversprechender:
Indem ich davon ausgehe, es mit mündigen, erwachsenen, lernbereiten und kooperationsfähigen Bürgern einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft zu tun zu haben, die noch dazu mit Konflikten leben können, gehe ich augenblicklich auf meinen Nächsten mit dem Respekt desjenigen zu, der von ihm das Beste erwartet.
Hier kann ich natürlich jederzeit negativ enttäuscht werden, aber das ist nur mein Problem.
Diese Haltung zwingt mich dazu, dem Anderen meine eigene Konfliktbereitschaft zu schenken - wie sonst sollte ich meinen Respekt zeigen? Tue ich das nicht, weil ich davon ausgehe, er kann meine Wahrheiten nicht verkraften, behandle ich ihn wie ein kleines Kind, dem ich gewisse Anstrengungen und Verantwortungen noch nicht zumuten kann - damit laufe ich auf das oben angesprochene totalitäre Weltbild hinaus.
Sie fordert mich außerdem dazu heraus zuzuhören und die Chancen zu nutzen, die mit der Irritation kommen, die der Andere ist.
Ich formuliere eine Referenz von Liebe folgenden Inhalts:
Erwarte die Erwartungen des Anderen und mache den Anderen zum Motiv über Dich hinauszuwachsen.
Die Erwartungen des Anderen zu erwarten, zwingt mich wiederum in Überlegungen zu Empathie:
Empathie bedeutet sich in den Anderen hineinversetzen, seine Beweggründe nachvollziehen zu können und zu wollen.
Halten wir es hier so kurz.
Kommunikation ist ohne Empathie nicht möglich, aber Empathie als menschlicher Wert muss konsequent durchdacht werden, damit er uns nicht entgleitet und wir Grenzen verletzen:
Nehme ich den Gedanken ernst, dass ich den/die Andere/n voll in ihre/sein Universum/Universen entlassen muss, weil ich ihn oder sie sonst augenblicklich als jemanden denken und behandeln werde, der nicht kompetent ist seine eigenen Entscheidungen zu fällen, muss ich über Grenzverletzungen meinerseits, über Übergriffigkeit nachdenken.
Ich darf aus täglichen Beobachtungen schließen, dass Menschen gern ihre eigenen Entscheidungen fällen - und das selbst, wenn diese für mich dumm, einfältig, närrisch oder gar gefährlich aussehen.
Solange geltendes freiheitlich-demokratisches Grundrecht nicht verletzt wird, zwingen mich meine Überlegungen zum freien Menschen und zu meiner Verpflichtung, diese Freiheit zu achten, dazu, auch über Empathie kritisch nachzudenken:
Beispiel: Wenn ich davon ausgehe, dass der Andere keine sozial hinreichende Kontrolle über seine Emotionen hat (was eh ein ziemlich grauer Begriff ist, denn wo beginnt diese und wer entscheidet das?), welche Konsequenzen haben dann meine Folgegedanken in der Richtung, dass ich ihm oder ihr deshalb bestimmten Ton, bestimmte Ideen, bestimmte Konflikte und so weiter nicht zumuten kann oder sogar darf?
Das ist das eine Problem: Ich laufe wieder Gefahr, meinen Nächsten geistig-emotional zu entmündigen.
Das andere ist: Auch Empathie kann nicht in den Anderen eingreifen, ich kann die Autopoiese meines Nächsten genauso wenig kurzschließen wie er die meine. Insofern funktioniert auch Empathie immer nur so gut, wie meine eigene Semiosphäre folgerichtige Gedanken/Vorstellungen/Gefühle produzieren kann.
Das bedeutet im Klartext: meine Empathie kann sich nicht nur irren, sie wird das auch immer wieder tun.
Empathie ist ein schlechter Berater - sie zu erwarten, sie sogar zu verlangen, ist nicht nur unvernünftig, sondern im Zweifelsfall auch übergriffig.
Doch was nun, wenn ich ein ziemlich guter Empath bin, der eine Menge von Anderen adäquat interpretiert?
Was, wenn ich die Zeichen, Texte und Signale des/der Anderen so gut lesen kann, dass ich bei Kontakt augenblicklich Einiges über den Anderen weiß, was der-/diejenige vielleicht gar nicht möchte, dass ich das sehe? Was, wenn er/sie sogar nicht möchte, dass ich weiß, dass er/sie gar nicht möchte, dass ich auch das sehe?
Wenn ich meine Freiheitsethik aus obigen Überlegungen heraus ernst nehme, muss ich hier konsequent auf einige Empathie verzichten - und das aus Gründen der Empathie.
Ich muss meine Fähigkeit zurückstellen zu sehen, was ich nicht sehen soll, meine Analyse vor mir selbst verbergen oder - noch besser - mit solcher Intensität auf den sozialen und ethischen Prüfstand stellen, dass ich ihr nicht mehr trauen kann. Zum Schutz der Freiheitsrechte Anderer bin ich gezwungen mir nicht zu vertrauen.
Unsicherheit als Methode gehört zu den wichtigen Instrumenten nicht nur jener, die Freiheitsethiken leben, sondern auch derjenigen, die ihre Systemtheorie verstanden haben.
Ich muss das Recht des Anderen darauf, was er mir bewusst mitteilen will, respektieren und deshalb sehr vorsichtig sein, wenn es darum geht, unbewusste Signale zu lesen. Im Zweifelsfall muss ich beides können: mich auf den reinen Text konzentrieren und beachten, wenn "Stopp!"-Schilder aufgestellt werden - aber auch bei Einladungen sehr vorsichtig sein, denn "komplexes autopoietisches System" bedeutet, dass sich niemand seiner selbst sicher sein kann. Das gilt erst recht für diejenigen, die emotional brauchen, dass man nett zu ihnen ist ... Hier - wie auch sonst natürlich - dürfen wir der Einladung zum Missbrauch nicht folgen.
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Konsequente Freiheitsethik bringt für denjenigen, der ihr folgt, einige Unannehmlichkeiten mit sich:
1. Wir müssen uns zumuten, unsere Analyse und unsere Empathie aus Empathie nicht zu nutzen.
2. Wir sehen uns aus folgerichtigen Überlegungen heraus gezwungen, dem Anderen erwartungsfrei zu begegnen, was im Zweifelsfall bedeutet: die besten Erwartungen an den Anderen zu hegen, um zu verhindern, dass wir negativ "Was der Denker denkt, wird der Beweisführer beweisen" erleben.
3. Diese besten Erwartungen können wir nicht durch empathischen Ton und einfühlsames Selbstdarstellen reduzieren, sondern müssen auch hier der Logik unserer Überlegungen folgen und dem Anderen (und damit natürlich uns selbst) unsere Kritik, unsere Konfliktbereitschaft ebenfalls zugestehen.
Es gilt sogar die Erlaubnis zur Unfreiheit zu erteilen:
Keine Freiheitsethik ist vollständig ohne den Anderen in das Recht auf seine Unfreiheit, sogar in das Recht auf sein Unglück zu entlassen. Das bedeutet natürlich nicht, Erste Hilfe zu verweigern, aber Freiheitsethiken kennzeichnen sich besonders dadurch, dass man sich selbst jedes Recht (inklusive einiger Erwartungen, Kommunkationsstile, abstrakter Werte und so weiter) auf und über den Anderen verbietet.
Eine solche Ethik lässt sich nicht vorschreiben, sie kann nur selbst gelebt werden. Erst dann, wenn der Andere beginnt, die Freiheitsrechte Dritter einzuschränken, die das wiederum selbst nicht wollen, beginnt unser Recht, ihm dieses Recht zu verweigern.
Je besser ich kommunizieren kann, so intensiver und bedeutungsklarer und -dichter ich lesen und schreiben, sprechen und zuhören kann, desto mehr steigt gleichzeitig meine Verpflichtung dazu, diese Fähigkeiten einigenteils zugunsten der Freiheit des Anderen zurückzustellen.
Freiheitsethiken kennzeichnen sich durch das Recht dazu, die Freiheit auf sich selbst zu beanspruchen, aber eben gleichzeitig die Freiheitsrechte Anderer zu achten.
Was die Freiheit auf sich selbst angeht, muss jeder, der für sich eine Freiheitsethik in Anspruch nimmt, wissen, dass er oder sie nicht in Gesellschaften lebt, die dafür bereits Verständnis entwickelt haben.
Konflikte sind vorprogrammiert. Damit müssen wir umgehen lernen.
Ein Bildungsauftrag darf hieraus abgeleitet werden, muss aber den Regeln der Freiheitsethik folgen.
Es kommt auf Menschlichkeit an:
Freundlichkeit, Humor, spontane Reaktionen konstruktiver, aber auch destruktiver Art sind nicht verboten, solange ich mit meinen Pressionen vorsichtig bin.
Einerseits darf ich vom Anderen erwarten, dass er Pressionen erkennen kann - jenen Aspekten von Kommunikation, welche die Annahme des Kommunikationsangebots wahrscheinlicher machen sollen - andererseits muss ich von mir selbst verlangen, dass meine Pressionen wahrhaftig sind.
Wer Beziehungen mit Werbung und Marketing missbraucht, achtet die Freiheit Anderer nicht.
Das lässt sich natürlich schnell herausfinden, nichtsdestotrotz handelt es sich dabei um Missbrauch. Hier können wir das Recht des Anderen selbstreferenziell zu entscheiden nicht zur Entschuldigung unserer Versuche nehmen, seine Schwächen auszunutzen.
Es hilft seine Mitmenschen wirklich zu mögen und dort, wo man jemanden nicht mag, gute Gründe zu haben. Wo Freundlichkeit und Humor von Herzen kommen, sehe ich keinen Konflikt mit Freiheitsethiken - das gilt auch dann noch, wenn der oder die Betreffende weiß, dass mit ihnen als Grundlage paradoxe Interventionen wie "Los, seid konfliktbereit, haut rein!" leichter fallen.
Ein Gebot zur Freundlichkeit folgt hieraus aus mehreren Gründen nicht - das gilt besonders für Andere, die ich auch in ihre Freiheit zur Unfreundlichkeit, ja Grobheit entlassen muss, wenn ich aus dem Vollen des gemeinsam Möglichen schöpfen will. Doch auch mir selbst muss ich diese Mittel lassen - beispielsweise, um Grenzverletzungen Anderer in ihre Schranken zu verweisen.
Ferner lässt sich nicht vorhersagen, wer welchen Tonfall, welche Bemerkung wie interpretiert. Im Zweifelsfall bringen wir über das Tondiktat jene an die Macht, die am Wenigsten bereit dazu sind die Rechte Anderer auf freie Entfaltung zu respektieren.
Freiheitsethiken kommen weder widerspruchsfrei, noch lassen sie sich universalisieren. Wohl aber kommen sie mit einigem Anspruch an die eigene geistige und soziale Reife - und das interessanterweise auf eine Art und Weise, die Vielen, die genau darüber gern sprechen, erst einmal nicht in den Kopf will, denn:
Solche Ethiken können nur mit tiefem Verständnis davon, wie komplexe autopoietische Systeme funktionieren, konsequent bleiben:
Dazu gehört zu wissen, dass Selbstkontrolle und Erleuchtung Illusionen sind.
Menschen, die das nicht erkennen, neigen dazu, sich selbst und Andere in ein Korsett sozialer Ausdrucksformen zu konditionieren, die keinen Raum für spontane Konflikte und damit auch keinen für cutting edge Innovation lassen.
Wer nicht weiß, dass Widerspruchsfreiheit und Universalität nicht funktionieren, wird unweigerlich nicht nur sich selbst, sondern auch andere einzusperren versuchen.
Gelebte Ethik der Freiheit verlangt deshalb Bildung, Bildung, Bildung.
Sie verlangt außerdem zu lernen mit Paradoxien zu leben und sie sehr ernst zu nehmen.
Sie ist von äußerstem Respekt für das Recht des Anderen auf seine Andersartigkeit geprägt, und wenn das allein nicht schon Grund genug ist, sich mit ihr sehr wohl zu fühlen, auch wenn sie unbequem ist, weiß ich auch nicht :)
So schließe ich denn mit einer kleinen Erweiterung von Rosa Luxemburgs bekanntem Ausspruch:
Meine/Deine/unsere Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden!
Und bedanke mich für die Lebenszeit, die Sie in diese Arbeit investiert haben.