Die neue gesellschaftliche Mitte - Komplexitätsmanagement in Wirkichkeitsemulation

Spätestens mit den Auseinandersetzungen um "Meine Oma ist 'ne alte Umweltsau", einem von Kindern gesungenen Lied, das vom WDR Ende 2019 veröffentlicht und dann wieder vom Netz genommen wurde und das gewaltige soziale Verwerfungen mit sich gebracht, bzw. deutlich gemacht hat, kann uns nachhaltig bewusst werden: Wir haben ein Bildungsproblem, und zwar ein Problem in mangelnder Fähigkeit, die Komplexitäten in Wirklichkeitsemulation adäquat zu formen und entsprechend funktional zu handeln.

Kommunikationskompetenz in den Netzen (bzw. Medienkompetenz) hängt von mehreren Faktoren ab. Dazu gehören:

  • Problembewusstsein - Kenntnis der Bedeutung von Kommunikationskompetenz für alle Bereiche des Lebens, für Verständigung, Miteinander und gesellschaftliche Entwicklung im Kontext der Klimakrise und der globalen und lokalen psychosozialen Krisen
  • Kenntnis der Funktionsweise kommunikativer Riesenwellen
  • Kenntnis der Emergenz, in die wir eingetreten sind
  • Kenntnis der Programme, die auf die Bewegungen der Internetuser reagieren und ihnen Vorschläge zur weiteren Nutzung machen (unscharferweise oft "Algorithmus" oder "Algorithmen" genannt)
  • Kenntnis der Kommunikationskompetenz auszeichnenden Faktoren, als da sind:
    Dimensionierungsfähigkeit
    Differenzierungsfähigkeit
    Empathie
  • Die Fähigkeit, aus einem Thema Tempo herauszunehmen, um sich Zeit zu nehmen, die verschiedenen Aspekte zu beleuchten, zu durchdenken, um dann eine eigene, den Komplexitäten gerecht werdende, Analyse zu liefern, so zu der Ansicht gekommen wird, dass diese noch fehlt
  • ...

Während für gewöhnlich über die gesellschaftliche Mitte ökonomisch nachgedacht wird, möchte ich einen anderen Maßstab anlegen, nämlich einen kommunikativen. Da ich Gesellschaft als Kommunikationssystem betrachte (und mir bewusst bin, dass es sich bei Wirtschaft um (nur ein) Subsystem von Gesellschaft handelt), sehe ich mir weniger an, wie viel jemand verdient, aus welcher Bildungs- und Finanzschicht jemand kommt (ob er eher zum Mittelstand oder der Mittelschicht gehört oder entsprechend woanders einsortiert werden muss), sondern ob sich die Kommunikation thematisch und von der Art der Auseinandersetzung her eher in der Mitte bewegt und sich somit in alle Polarisierungen hineinbegeben kann, ohne notwendigerweise auf bestimmten Seiten Platz zu nehmen, sondern im Gegenteil eher dazu neigt, Argumente aus allen Richtungen zu übernehmen und zu transformieren.

Ich halte in Wirklichkeitsemulation (<- Link anklicken) die Einteilung in Unter-, Mittel- und Oberschicht, wie die Einteilung in Stände nur noch sekundär für bedeutsam. Stratifizierung hat sicherlich (bildungs-)ökonomisch interessante und relevante Aspekte und sagt uns auch immer noch etwas über die Möglichkeiten der Betreffenden, doch wenn es um das gesellschaftliche und politische Klima geht, sagt sie uns nichts Hinreichendes über unsere Entwicklungspotenziale.

Im Zusammenhang mit dem Umweltsau-Debakel (Ende 2019, s. o.) fielen immer wieder zwei Begriffe, die uns ein besseres Verständnis der Problematik liefern können, nämlich: "Generationenkonflikt" und "Spaltung der Gesellschaft".

Beide treffen inhaltlich nicht auf das zu, was ich unter Neue gesellschaftliche Mitte zu beobachten vorschlage.

Das hat unter anderem damit zu tun, dass die Betreffenden kein so großes Problem mit Konflikten haben, sondern sie eher (auch aus systemischer Perspektive) als Anregung verstehen dazuzulernen und sich neue Gedanken zu machen. Der Gedanke der Spaltung ist nicht so unerträglich, sondern wird tatsächlich eher interessiert betrachtet: "Was unbequem ist, kann mir helfen, mich zu entwickeln!", während gleichzeitig die Erkenntnis überwiegt, dass Teilnahme an extremen und trivialen Polarisierungen dazu führt, dass wertvolle Energien und Ressourcen verschwendet werden, die wir heute dringend zur Lösung der anstehenden Probleme (Klimakrise ...) benötigen.

Typische Merkmale der neuen gesellschaftlichen Mitte:

  • Lerninteresse/Selbstoptimierungsinteresse - hohe Bereitschaft zu Eigen- und Selbstverantwortung und psychischer Kompetenz (der psychische Anspruch wird gestellt und ernst genommen)
  • Internetkompetenz, Medienkompetenz
  • Höheres technisches Wissen
  • Dimensionierungsfähigkeit und Differenzierungsfähigkeit oder zumindest das Interesse, Gedanken- und VerhaltensFORMen entwickeln zu können, die ich hier (<- Link anklicken) mit "Komplexitätsmanagementstufe 3" beschreibe.
  • Einfühlungsvermögen/Empathie in die Bedürfnisse der Gesprächspartner oder zumindest die Bereitschaft dazu, sie zu zeigen
  • Höhere Bildung und starker autodidaktischer Einsatz - ganz besonders im Zusammenhang mit zeitgemäßer systemischer und kybernetischer (Selbst-)Bildung
  • Sozialer Sinn bei gleichzeitig konstruktivem wirtschaftlichen Einsatz
  • Kooperationsinteresse
  • Konstruktive Konfliktbereitschaft
  • Politische Flexibilität
  • Generationenübergreifend denken und entsprechende Beziehungen aufbauen
  • Interdisziplinäre und transdisziplinäre Erkenntnis- und Erfahrensgestaltung
  • Geringes Interesse, an extremen und trivialen Polarisierungen mitzumachen - statt dessen große Neigung, breiter gefächerte Analysen für den Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit in den Kommunikativen Riesenwellen zu liefern
  • Agile Denk- und Handlungsstrukturen
  • Sich im Sprechen und Handeln kenntlich machender Sinn für Fehlerkultur und das Wohlergehen der Sozialgemeinschaft
  • Steigende Bereitschaft, eher rhetorische und Dagegenreaktionen durch sachliche Argumentation zu ersetzen
  • Eigene ideologische (z. B. spirituelle oder politische) Idiosynkrasien werden als eigene erkannt, der Gleichschaltungsimpuls wird zurückgeschaltet - die Idiosynkrasien können somit weltanschaulich diskutiert werden
  • ...

Was nach Bildungselite klingt, sieht sich selbst mehr mit den eigenen Schwächen, nimmt sich deshalb zurück und strebt Qualität von Lesen und Zuhören genauso an wie von Schreiben und Sprechen.

Diese neue gesellschaftliche Mitte wird von den Parteien bislang noch nicht wirklich adressiert - wir finden sie in vielen Kommentaren der Mainstream Media vertreten, die sich Mühe geben, die Impulse hinter den Polarisierungen zu analysieren und in Frage zu stellen. Aber die politischen Parteien bilden derzeit die Bedürfnisse der neuen gesellschaftlichen Mitte nicht oder nur unzulänglich ab - teilweise deshalb, weil der gewohnte Gedanke Wähler zu fangen in den Netzen immer einfachere Gestalt annimmt? Komplexe Zusammenhänge sind schwerer zu vermitteln. Die meisten politischen Parteien sind heute nicht dazu in der Lage, mit frei denkenden Wählern umzugehen. Sie haben vielenteils die Intention, ihre Wähler zu manipulieren.

Doch in der neuen gesellschaftlichen Mitte besteht definitiv das Interesse an Vermittlung komplexer Zusammenhänge. Die eher rückständigen und weitenteils rein ökonomisch ausgerichteten Kommunikationsangebote in Richtung "Mittelschicht" und "Mittelstand" können nur Teile der Bedürfnisse dieser neuen Strömung abdecken und hinterlassen den unangenehmen Beigeschmack eines immer wieder heraufbeschworenen vergangenen Zeitalters. Ein Zeitalter in dem "liberal" zumindest in Deutschland zunehmend mit "Habe und/oder mache Geld und muss es konservieren" besetzt wurde, während die neue gesellschaftliche Mitte sich in Verantwortung für andere sieht und das Interesse kommuniziert, auch finanziell im Sinne des Gesamtwohls zu handeln.

Ich bin der Ansicht, dass in dieser neuen gesellschaftlichen Mitte Hoffnung liegt, die Herausforderungen, vor die wir heute gestellt sind, intelligent und effizient lösen zu können - entgegen der lauten Wirkichkeitsemulations-Inkompetenz, die uns in den Kommunikativen Riesenwellen entgegen schlägt und die all unsere Bemühungen, tatsächlich ins Handeln zu kommen, auszubremsen versucht, bzw. ausbremst.

Die neue gesellschaftliche Mitte bündelt sich langsamer als jene, die sich das Extrem erlauben - schon, weil sie darin die Gefahren erkennt, die uns in der Vergangenheit immer wieder großes Leid gebracht haben. Doch wer in den Internetmedien genau hinsieht, wird z. B. auf Twitter oder Linkedin sehen, dass Bündnisse geformt werden, die keineswegs nur ökonomisch und durch Eigenwohl dominiert sind, sondern die etwas mit gegenseitiger Achtung, Voneinander-Lernen und gemeinschaftlichem Wachstum zu tun haben.

Wir dürfen gespannt sein, wie sich diese Gesellschaft in der Gesellschaft über die Netze hinweg weiter ausformt und welchen Einfluss sie langfristig nehmen wird. Ich halte es für eine gute Idee, ihr zuzuhören, auch wenn das heißt, dass man länger als drei Minuten dafür benötigt.