Gerüchte, Tratsch und Klatsch spielen eine wichtige Rolle für Individuum und Gesellschaft. Sie helfen Atmosphären zu stabilisieren, Konflikte zu bewältigen, neue Konflikte zu schaffen, sie können entspannen, an- und aufregen. Und sie lassen sich nicht ausschalten.
Wie bei so Vielem, das negativ konnotiert ist, gleichzeitig aber grundlegend wichtig für inneren und äußeren Zusammenhalt, hilft überhaupt nicht zu versuchen das Phänomen unter Kontrolle zu bekommen oder gar (sich selbst) zu verbieten, sondern wir kommen hier mit paradoxer Intervention sehr viel weiter:
Begrüßen wir das Phänomen. Es ist okay, wenn Andere über dich reden, solange sie sich damit erst bei dir melden, wenn das Problem tatsächlich auch dann noch ernst genommen wird, wenn der Dampf abgelassen wurde. Das Problem sind nicht die Tratscher, sondern diejenigen, die den Tratsch an diejenigen weiterleiten, die davon betroffen sind und diejenigen, die versuchen Kontrolle über ihr soziales Umfeld zu bekommen, so dass nur über sie gesagt wird, womit sie einverstanden sind. So lassen sich keine neuen Konflikte schaffen, sondern so stabilisieren sich Schulhofcliquen.
Eine offene Tratsch-Atmosphäre hat eine Menge für sich. Wir reden alle mal über Andere. Es hilft uns und kann sogar Spaß machen. Insofern hilft noch mehr, das als natürliches Phänomen von eher geringer Bedeutung zu betrachten, das wir entspannt nehmen können, solange eine Sache dabei ausgeschaltet wird: Der Versuch die Betroffenen per Massedruck in gewohnte Verhaltensmuster zu konditionieren. Das! ist das eigentliche Problem und Zeichen persönlicher und gesellschaftlicher Schwäche, denn wenn wir uns sicher sind, dass der Andere etwas falsch macht, können wir auch gleich mit ihm sprechen. Wer aber Dritte nutzt, um die eigene Schwäche loszuwerden und Druck auf den Konfliktpartner auszuüben, dem gehört der Hintern versohlt :) Dasselbe gilt für diejenigen, die sich über Gerüchte soziale und wirtschaftliche Vorteile verschaffen.
Entspannte Konfliktatmosphären mit gut funktionierender Gerüchteküche helfen beim Erwachsenwerden. Wer sich mit Unsicherheitsgefühlen über das Verhalten Dritter an Freunde und Kollegen wendet, sollte das ruhig tun dürfen. Das geht aber nur, wenn wir im Kopf behalten, dass wir alle reden. So etwas wie "geschützte Räume" gibt es hier nicht. Wer Angst davor hat, dass das, was er Dritten anvertraut bei demjenigen ankommt, um den es geht, sollte dreimal darüber nachdenken, ob das möglich ist, denn in der Regel funktioniert das nicht. Allerdings werden sich Erwachsene darüber auch weniger Sorgen machen müssen, wenn sie wissen, dass diejenigen, die gerade Tratschthema sind, ebenfalls einer erwachsenen Freiheitsethik folgen. Solche Leute gehen damit nämlich anders um.
Es hilft, wenn alle Beteiligten wissen, welche Aufgaben die Gerüchteküche für die Sozialgemeinschaft, aber auch für ihre Individuen erfüllen. Das gilt ganz besonders in Statushierarchien (denen wir übrigens auch nicht entkommen können). Indem die Schweigeerwartung ausgeschaltet wird und die Beteiligten lernen jenem, der ihnen etwas darüber sagen will, was ein Dritter über sie gesagt hat, zu antworten:
a) "Will ich gar nicht hören!" oder,
b) wenn das nicht geht, beziehungsweise gewünscht wird:
"Und? Jeder tratscht oder sagt mal was, was mir nicht passt, das lässt sich nicht ausschalten!" oder
c) entspannt zuhören und das interessant zu finden, ohne das zum Konditionierungsanlass zu nehmen,
wird dem Ganzen der hässliche Stachel genommen, der das Phänomen üblicherweise so gemein macht.
Auch sich (darüber) zu ärgern, ist absolut in Ordnung, weil das ebenfalls bei Konfliktabbau helfen kann, wenn Alle wissen, dass das so funktioniert. Was uns schadet, ist der Versuch besser zu sein als unsere Natur, moralischen Werten zu folgen, die gar nicht funktionieren können, weil wir nicht für sie gebaut sind. Sowas schafft Menschen mit Schräglage, die uns unglaublich viel Zeit, Ressourcen und Lebensenergie kosten können. Wer glaubt, dass ein Mensch, der sich über Andere ärgert, emotional schwach ist, sollte noch einmal genauer hinsehen, was da passiert: ein Konditionierungsversuch aus fehlender intellektueller Redlichkeit und mangelnder sozialer Integrität oder eine Impulsreaktion, um Unrecht von sich abzuwehren. Letztere sollten wir niemandem verweigern - auch dann nicht, wenn wir diejenigen sind, die das Unrecht begangen haben. Unrecht wird nicht weniger, wenn wir dem mehr davon hinzufügen!
Wir müssen lernen, dass wir Unrecht tun. Wir können das nicht verhindern. Auch dass Andere Unrecht tun können wir nicht verhindern. Das ist ein weiterer Grund, warum Vertrauensatmosphären erst einmal problematisch sind, wenn solche Dinge nicht gleich mit diskutiert werden. Schuld und Scham brauchen ihren Platz in Persönlichkeits- und Gesellschaftsentwicklung, was bedeutet, dass wir unbedingt lernen müssen damit aufzuhören, sie als Konditionierungsinstrumente zu missbrauchen, denn dann bekommen wir nur noch Leute, die versuchen, diese Gefühle loszuwerden.
Mit entspannter Tratsch-Atmosphäre wird diese eine Funktion ausgeschaltet, die die Gerüchteküche für Unmündige erfüllt, nämlich sie in der Clique zu halten. Erwachsene wissen, dass sie die Andersartigkeit des Anderen zur Selbstirritation benötigen und nutzen die Gerüchteküche, um ihre Erwartungen und Ängste zu klären und einfach mal die Ansicht Dritter zu hören.
Wir sind emotionale Wesen. Wir werden mal wütend, ängstlich, unsicher, trotzig, spröde, problematisch - das gehört alles dazu. Wenn in den Cliquenbildungsprozessen emotionale Reaktionen grundsätzlich (also über gewöhnliche Affektkontrolle hinaus) misstrauisch beäugt werden, werden die natürlich zu Pressionen. Wo das passiert, wird die emotionale Reaktion des Anderen zur Bedrohung nicht nur für das Individuum, sondern auch für den (nur über Lügen aufrecht haltbaren) sozialen Frieden. Da oben drauf eine dieser modernen vermurksten "spirituellen" Kulturen, und unsere liebe gute Freundin, die Wahrhaftigkeit, kann sich für lange Zeit von uns verabschieden, während wir es über lange Zeit mit passiv aggressiven Menschen zu tun haben, die sich gegenseitig über ihre Lebenslügen von sich selbst und von aufrecht intensiven Beziehungen mit streitfähigen Partnern abhalten.
Soziale Atmosphären müssen danach gebaut werden, wie wir funktionieren, wie Evolution uns gebaut hat. Gewöhnlich negativ konnotierte Mechanismen wie die Gerüchteküche, erfüllen Konditionierungsfunktionen. Das müssen wir nicht ausschalten, wir können es konstruktiv nutzen. Und so schalten wir das eigentliche Problem aus, nämlich unsere kontinuierlichen Bestrebungen unsere eigenen und die Freiheiten Anderer zu beschneiden.
Gesunde Entwicklungsgemeinschaften verfolgen fundamentale Freiheitsethiken. Um das tun zu können, müssen sie hinsehen, was welche Funktion erfüllt und dann dafür sorgen, dass die Funktion erfüllt werden kann, ohne dass Entwicklungsschaden angerichtet wird.
simple as that ...